Sozialpädagogin aus Jugendhilfe: “Wir sind auf das Schlimmste vorbereitet”

Sozialpädagogin: "Wir haben einige Bewohner, die ohnehin psychisch eher labil sind. Sie leiden durch die angespannte, ungewisse Situation noch stärker."

Sozialpädagogin: "Wir haben einige Bewohner, die ohnehin psychisch eher labil sind. Sie leiden durch die angespannte, ungewisse Situation noch stärker."

Svenja Meyer (Name geändert) arbeitet als Sozialpädagogin in einer Einrichtung zur Inobhutnahme. Dorthin kommen vor allem Kinder und Jugendliche, die vom Jugendamt aus ihren Familien genommen werden müssen. Wie sich ihre Arbeit durch die Corona-Pandemie verändert hat, erzählt sie dem RND in einem Protokoll:

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"In der Jugendhilfe sind wir als Inobhutnahme-Stelle eine Durchgangsstation. Zu uns kommen die Kinder und Jugendlichen in akuten Notsituationen und zwar direkt nachdem sie vom Jugendamt aus den Familien genommen wurden oder selbst nicht mehr bei ihren Eltern bleiben wollen und können. Sie bleiben solange, bis es eine neue Perspektive gibt.

Manche können in ihre Familien zurückkehren, zum Beispiel weil die Eltern nun durch Familienhelfer und das Jugendamt im Alltag unterstützt werden. Andere wechseln auch in eine Wohngruppe für junge Menschen oder können sogar in eine eigene Wohnung umziehen. Im Moment leben bei uns zwölf Kinder und Jugendliche. Die kleinsten Bewohner sind vier Jahre alt, die ältesten gerade volljährig geworden.

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Kinder haben Gewalt und Verwahrlosung erlebt

Die Gründe, aus denen sie zu uns kommen, sind sehr unterschiedlich. Einige haben Gewalt und Verwahrlosung erlebt, bei anderen ist ein alleinerziehendes Elternteil länger im Krankenhaus und es gibt keine Angehörigen, bei denen die Kinder unterkommen können. Bei manchen ist es einfach aktuell besser, wenn sie eine Weile von anders wohnen – gerade in der turbulenten Zeit der Pubertät.

Trotzdem ist die Zeit bei uns immer eine Ausnahmesituation und braucht intensive Begleitung. Wir versuchen ihnen einen Stück Alltag zurückgeben, ein Gefühl von Akzeptiert– und Geborgensein. Diese ohnehin schon anspruchsvolle pädagogische Arbeit hat sich durch Corona noch verkompliziert.

Schwierig: Masken tragen oder Abstand halten

Gerade die Kleinsten suchen sehr unsere Zuneigung und Nähe.

Sozialpädagogin in einer Einrichtung zur Inobhutnahme

Einerseits im Alltag: Masken tragen oder Abstand halten, ist für uns nicht möglich. Dafür ist die psychische Belastung der Kinder und Jugendlichen ohnehin schon groß genug. Nähe und Geborgenheit sind ein wichtiger Teil der Arbeit. Gerade die Kleinsten suchen sehr unsere Zuneigung und Nähe. Auch beim gemeinsamen Abendessen mit 13 Personen lässt sich schlecht Abstand halten. Mehr als Händewasche und sich an die Empfehlungen der Landesregierung zu halten, bleibt uns nicht.

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Auch der Kontakt zu den wichtigen Bezugspersonen wie den Eltern oder Großeltern muss weiter bestehen. Das ist immens wichtig, um den Kindern und Jugendlichen zusätzlichen Halt zu geben. Allerdings können die Angehörigen nicht wie sonst einfach so vorbeikommen und Zeit mit den Kindern verbringen. Sie kommen nun ins Büro, erhalten eine Hygiene-Belehrung und dürfen dann einen Spaziergang mit ihrem Kind oder Enkel machen. Zu zweit versteht sich.

Kontaktverbot und Notfallplan

Auch sonst müssen sich die großen und kleinen Bewohner an das Kontaktverbot und andere Auflagen halten. Sich mit Freunden in der Stadt zu treffen, ist also tabu, stattdessen verbringen wir mehr Zeit gemeinsam. Ob das als Corona-Schutz ausreicht, kann niemand sagen. Für den Fall der Fälle haben wir aber einen Notfallplan erarbeitet. Es gibt drei freiwillige Pädagogen, die bei einer Quarantäne bereit wären, 14 Tage durchzuarbeiten.

Zusätzlich ist unsere Vorratskammer im Moment besonders gut gefüllt. So könnten wir auch während einer Quarantäne täglich frisch kochen. Außerdem wurde ein neues Schichtsystem eingeführt. Im Moment arbeiten zwei Vierer–Teams im vierzehntägigen Wechsel. Das ist zwar eine immense Belastung für die Pädagogen, gewährleistet aber die Betreuung bei möglichen Corona-Fällen im Team. Solche Vorkehrungen sind immens wichtig. Wir können nicht einfach schließen. Unsere Arbeit ist zu wichtig für die Kinder und Jugendlichen. Wir sind im Moment ihr Zuhause. Eine 24 Stunden-Betreuung muss gewährleistet sein.

Das Beste aus der Corona-Zeit machen

Wir versuchen das Beste aus der Zeit ohne Kita, Schule und Freunde zu machen. Wir machen ausgedehnte Spaziergänge, spielen Spiele, kochen zusammen. Das genießen unsere Bewohner. Für manche ist dieses familiäre Gefühl ganz neu. Vielleicht sind wir durch die Krise alle sogar noch ein Stückchen enger zusammengerückt. Gleichzeitig ist auch bei uns der Alltag durch die Schließung der Kindergärten und Schulen deutlich angespannter.

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Wir mussten die Vormittagsschichten aufstocken. Jetzt kümmern wir uns immer zu zweit um eine feste Tagesstruktur. Frühes Aufstehen, gemeinsames Frühstück, Spielzeit für die Kleinen, Schulaufgaben für die Großen. Mittagessen und danach haben die Bewohner wieder mehr Freizeit. Das gibt ihnen Sicherheit in dieser für alle unsicheren Zeit. Trotz aller Routine, trotz aller Mühe stoßen wir alle auch an unsere Grenzen.

Starke Belastung für Jugendliche und Pädagogen

Nicht selten arbeiten wir zehn Tage am Stück.

Sozialpädagogin

Wir haben einige Bewohner, die ohnehin psychisch eher labil sind. Sie leiden durch die angespannte, ungewisse Situation noch stärker. Manche stehen auch vor den Abschlussprüfungen. Ob sie die auch im nächsten Jahr noch bestehen, weiß niemand. Andere leiden unter der Trennung von den Freunden oder machen sich Sorgen um ihre Großeltern. Diese starke Belastung ist wirklich spürbar.

Gleiches gilt für uns Pädagogen. Nicht selten arbeiten wir zehn Tage am Stück. Irgendwann ist auch unser Geduldsfaden nicht mehr so stark, irgendwann sind unsere Grenzen als Menschen erreicht. Umso wichtiger ist es, auf sich zu achten und sich einfach mal zehn Minuten Ruhe zu gönnen. Zum Glück zeigen die Kinder und Jugendlichen viel Verständnis dafür, wenn ich mal kurz vor die Tür muss. Zusätzlich nagt noch eine andere Ungewissheit an uns Pädagogen.

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Ich mache mir zunehmend Sorgen um einige unserer ehemaligen Bewohner, die inzwischen wieder bei ihren Familien leben. Eigentlich wissen wir alle, dass sie im Moment bei uns besser aufgehoben wären und können nur beten, dass nichts Schlimmes passiert. Wir versuchen per Telefon Kontakt zu halten und haben auch mit dem Jugendamt über unsere Sorgen gesprochen. Mehr können wir leider nicht machen.

Häusliche Gewalt steigt - und niemand schaut hin

Gleich zeigen die Erfahrungen aus China oder Italien, dass die Gewalt gegenüber Frauen und Kindern steigt, und zwar nicht nur in belasteten Familien. Begrenzter Wohnraum, Angst um Angehörige, Existenzsorgen, hohe Arbeitsbelastung, die Ungewissheit, wie es mit Corona weitergeht, vielleicht auch Drogen oder Alkohol – all das bringt Eltern an ihre Grenzen. Manche Familien rücken zusammen, in anderen passieren Dinge, die ich mir lieber nicht vorstellen mag.

Und das Schlimmste: Schutzinstanzen wie Kita, Schule oder Sportvereine können im Moment nicht mehr hinschauen. Die meisten Jugendämter arbeiten in Notbesetzung. Die meisten Sozialarbeiter aus der ambulanten Jugendhilfe besuchen nur noch selten die Familien. Bei den Jugendämtern geht man wohl von einer deutlichen Zunahme von Inobhutnahmen aus.

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Auch wir wurden angehalten, zusätzliche Notfallplätze zu schaffen. Einige Bewohner sind deshalb früher in ihre Wohngruppen umgezogen. So könnten wir nun zwei Kinder sofort aufnehmen. Für besondere Notfälle haben wir noch zusätzliche Betten im Schrank. Bisher brauchten wir die zum Glück nicht. Leider liegt das wohl aber am fehlenden Blick in die Familien. Deshalb wäre es aus meiner Sicht auch immens wichtig, die Schulen und Kindergärten schnell(er) wieder zu öffnen, wenigstens für die Familien, die diese Unterstützung am dringendsten brauchen.

*Name geändert

Protokoll: Birk Grüling

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