Philosophische Fragen und rauchende Colts
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/HMA6336EIZG3HIOQ4JBTR3OCWU.jpeg)
Kronzeuge Oliver Bellenhaus trägt Maske. Im Hintergrund stehen (v.l.n.r.) Verteidiger Alfred Dierlamm und sein Mandant Markus Braun.
© Quelle: Lukas Barth/dpa
München. Zwei Tage lang sagt Oliver Bellenhaus nun schon aus. Der Kronzeuge, der auch Angeklagter ist, legt im Gerichtssaal Folien auf zum besseren Verständnis von Zahlungsströmen und Zuständigkeiten bei Wirecard. Er fischt Zitate aus einem Meer von Ermittlungsunterlagen, die ihn und Mittäter belasten. Am Ende einer über 200-seitigen Erklärung aber steht ein Satz zum Hauptangeklagten Markus Braun, der mal Chef der kollabierten Skandalfirma war. „Da ist nicht die rauchende Pistole.“ Als solche bezeichnen Ermittler klare Schuldbeweise. Vielleicht lächelt Braun deshalb immer wieder auf der Anklagebank oder scherzt mit einem Verteidiger. Das Dokument, das ohne Zweifel beweist, dass er sich bei Wirecard organisierten Betrug ausgedacht hat und krimineller Bandenboss war, es fehlt bislang.
Dafür gibt es reichlich Indizien. Manche Chatverläufe, die Bellenhaus ausbreitet, klingen wie Gespräche unter Mafiosi, die man aus Gangsterfilmen kennt. Man unterhält sich über Dinge, ohne sie beim Namen zu nennen. Alle wissen bescheid. Gesagt wird wenig.
Strafprozess gegen Wirecard beginnt zweieinhalb Jahre nach spektakulärer Pleite
Ab Donnerstag muss sich der ehemalige Wirecard-Chef Markus Braun vor einem Strafgericht in München verantworten.
© Quelle: Reuters
Dennoch ist es vor allem Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm, der die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen zu erschüttern versucht. Er benennt von Bellenhaus verschwiegene Geheimkonten, auf denen „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ unterschlagene Wirecard-Millionen liegen. Der Kronzeuge entkräftet das. Dierlamm spricht von Daten, die „der angebliche Kronzeuge“ kurz vor der Wirecard-Pleite im Juni 2020 gelöscht habe, um die Existenz von ihm geraubter Geldern zu verschleiern. Er habe als Ex-Statthalter von Wirecard in Dubai lediglich einen Server abgeschaltet und dort keine Daten gelöscht, entgegnet Bellenhaus. Server schalte ab, wer lange das Büro verlässt. Er habe es damals verlassen, um sich deutschen Behörden zu stellen und auszupacken. In dem Stil geht es weiter zwischen Dierlamm und Bellenhaus.
Recht glaubwürdig kommen indessen Beispiele aus der Fantasiewelt von Wirecard daher, die der Kronzeuge präsentiert. Man muss sich an dem Punkt klar machen, dass im Prozess auch noch nicht zweifelsfrei geklärt ist, ob es 1,9 Milliarden Euro Wirecard-Treuhandvermögen wirklich gegeben hat oder ob es lediglich erfunden wurde. Nur im ersten Fall wären die Milliarden gestohlen worden.
Für die Existenz sogenannter TPA-Geschäfte über Drittpartner, aus denen sich die Treuhandkonten gespeist hätten, spricht so gut wie nichts. Bellenhaus zeigt Buchungen von Händlern, die über Wirecard mit Kunden abgerechnet haben - angeblich. Einer davon hat über Seiten hinweg ausschließlich eine Summe gebucht – 32,55 Euro. Eine Gesellschaft tätigt laut Wirecard-Beleg eine Großtransaktion, wird aber nachweislich danach überhaupt erst gegründet. Bellenhaus addiert die Händlertransaktionen, die angeblich milliardenfach über Wirecard-Systeme geleitet wurden und kommt auf eine skurrile Dimension. „Wirecard hätte mit jedem fünften Erdenbürger einmal pro Jahr in Kontakt stehen müssen, das ist mehr als bei Amazon.“ Im Falle seiner Existenz gemanagt hätte dieses Mammutgeschäft zum Großteil die von Bellenhaus geführte Wirecard-Drittpartnerfirma Al Alam in Dubai mit ganzen drei Mitarbeitern.
Ist die Nichtexistenz von etwas zweifelsfrei beweisbar?
Man kann intelligenter fälschen, denkt sich bei solchen Beispielen so mancher im Gerichtssaal. Bellenhaus demonstriert, wie leicht Daten mit angeblichen Umsätzen zu fingieren waren und bietet an, das auf Zuruf jederzeit beliebig zu wiederholen. Immer wieder kommt im Gericht bei seinen Worten Gelächter auf. Köpfe werden geschüttelt. Fast jeder schmunzelt irgendwann. Nur bei Braun und seiner Anwaltsriege bleiben die Mienen da regungslos und starr.
Waren Wirecard-Geschäfte aber im großen Stil fingiert, gab es nie Treuhandguthaben. Die 1,9 Milliarden Euro wären nicht geraubt worden, was Braun und der mitangeklagte Ex-Chef Buchhalter Stefan E. hoch und heilig versichern. Ihrer beider Verteidigungsstrategie läge in Trümmern.
Ist Nichtexistenz aber letztlich zweifelsfrei beweisbar? Im Wirecard-Prozess ist diese Frage alles andere als philosophischer Natur. „Ich werde nicht in der Lage sein, die Nichtexistenz des TPA-Geschäfts zu beweisen, da man nur die Existenz von etwas belegen kann, nicht aber dessen Nichtexistenz“, räumt Bellenhaus ein. Aber er weiß, wovon er spricht. In der Firmenzentrale galt er als „Regenmacher“, als Herr der magischer Buchhaltung, die Geld in Wirecard-Bücher regnen ließ, wenn es zum Erreichen von Geschäftsprognosen nötig war.
Einig sind sich die in zwei Parteien gegeneinander streitenden Angeklagten nur in einem. Führendes Mitglied der kriminellen Wirecard-Bande war Ex-Vorstand Jan Marsalek. Der österreichische Landsmann Brauns ist eindeutig das fehlende Glied im Prozess. Marsalek könnte Brauns Rolle und auch sonst vieles wenn nicht alles klären. Aber der 49-jährige, gegen den per internationalem Haftbefehl gefahndet wird, ist mutmaßlich in Moskau untergetaucht. Mitte Januar will sich Braun erklären. Ab etwa Februar werden Zeugen befragt. Dann gibt es vielleicht auch Antworten auf philosophische Fragen oder einen rauchenden Colt.