Tschüss, Legende! Wie Uwe Seeler in Deutschland Fußball und Gesellschaft prägte
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Uwe Seeler hat den deutschen Fußball maßgeblich geprägt.
© Quelle: imago/Sven Simon
Hamburg. „Wenn ich eine Knackwurst essen will, dann esse ich eine Knackwurst, und wenn ich ein Steak essen will, esse ich ein Steak.“ Sätze von solch bestechender Einfachheit, die dennoch so viel über ihren Sprecher verraten, können nur wenige Menschen sagen, ohne dafür belächelt zu werden. Uwe Seeler war einer dieser wenigen Menschen. Einfach, sympathisch, gerade. Und gerade weil er solche Sätze mit so viel Überzeugung sagen konnte, blieb er sein Leben lang „Uns Uwe“, die von allen gemochte Fußballlegende. Oder gibt es jemanden, der Uwe Seeler ernsthaft nicht mochte?
Am Donnerstag ist das Hamburger Fußballidol, der Ehrenbürger seiner geliebten Heimatstadt, ein Wahrzeichen wie Michel, Hafen und Reeperbahn, im engsten Familienkreis gestorben. Seeler wurde 85 Jahre alt.
Im Alter von 85 Jahren: Fußballlegende Uwe Seeler ist tot
DFB-Ehrenspielführer Uwe Seeler ist im Alter von 85 Jahren gestorben. In den 60er-Jahren war er als Stürmer Vorbild einer ganzen Generation.
© Quelle: dpa
Und Deutschland verliert dadurch mehr als einen Fußballer. Deutschland verliert einen Menschen, der als Fußballer die Nachkriegsgesellschaft geprägt hat, der Werte weitergetragen hat, die heute zwar ein wenig antiquiert wirken, dabei jedoch viel über den Gründungsmythos der Bundesrepublik erzählen. „Ich habe noch auf Kopfsteinpflaster Fußball gespielt, auf Trümmergrundstücken. Auch da habe ich Fallrückzieher, Flugkopfbälle gemacht. Ich sah danach immer aus … Meine Mutter war erschrocken, wenn ich nach Hause gekommen bin, dreckig, blaue Flecken, die Klamotten kaputt. Wenn ich heute die Bälle sehe … Wir hatten ja Ostereier. Selbst geflickt, die alten Blasen.“ So räsonierte er vor einigen Jahren in einem Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) über seine fußballerischen Ursprünge. Der Subtext ist klar: Für Leute wie Seeler war Fußball noch Herzenssache, während er Teilen der heutigen, auf gepflegten Grüns ausgebildeten Profigeneration auch dazu dient, mit Goldsteaks und teuren Autos zu protzen.
Uwe Seeler: ein Leben für den HSV
Und während diese heutige Profigeneration Vereinswechsel zur persönlichen Bereicherung vornimmt, vom nächsten Schritt oder vom letzten großen Vertrag fabuliert, blieb Seeler einfach immer beim Hamburger SV. Mit 16 Jahren lief er 1953, dem Jahr, in dem er seine spätere Frau Ilka kennen- und lieben lernte, erstmals in einem Freundschaftsspiel für die 1. Herrenmannschaft seines Klubs auf, 1972 trat er mit einem Spiel seines HSV gegen eine Weltauswahl vom Leistungssport zurück. Fast 500 Einsätze sammelte Seeler im Trikot der Hanseaten, erzielte mehr als 400 Tore. Mit ihm als Kapitän feierte der Klub eine deutsche Meisterschaft (1960). Mit ihm als Kapitän schaffte der HSV den schwierigen Übergang von der Oberliga Nord zur eingleisigen Fußball-Bundesliga. Mittelstürmer Seeler wurde in beiden Welten Torschützenkönig.
Zuletzt machte sich die Klubikone vor allem „Sorgen um seinen HSV“. Wenn der mal wieder in Abstiegsgefahr steckte, als er dann wirklich abstieg und wiederholt am Wiederaufstieg scheiterte, blieb Seeler erster Fan und erster Ansprechpartner der am HSV interessierten Medien, die jedes „Sorgen um meinen HSV“-Zitat des Idols dankbar weiterverbreiteten.
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Dazu gibt’s ein Alsterwasser: Uwe Seeler lässt die großen Momente seiner Karriere 2016 im Gespräch mit RND-Redakteur Sebastian Harfst noch einmal Revue passieren.
© Quelle: Privat
Was sich die heutige Profigeneration nicht mehr vorstellen kann: Seeler war zu seiner aktiven Zeit Halbprofi. Klar, für damalige Verhältnisse verdiente er als sogenannter Vertragsspieler gut bei seinem HSV. Doch nebenbei war er ab 1961 auf Vermittlung von Bundestrainer Sepp Herberger auch als Repräsentant für Sportartikel unterwegs. 70.000 Kilometer fuhr Seeler so pro Jahr durch die Republik. Abends suchte er sich nach getaner Arbeit Dorfvereine aus, bei denen er sich zum Training anmeldete. Schließlich musste er am Wochenende wieder für den HSV ran.
Wenn es irgendwie ging, liefen diese aus der Not geborenen Trainingseinheiten heimlich ab, denn wenn bekannt wurde, dass dieser Weltklassefußballer beruflich bedingt im Ort war, kam es zu Menschenaufläufen, an Training war dann nicht mehr zu denken. Denn natürlich ließ Seeler auch in solchen Situationen keinen Autogrammwunsch unerfüllt. Er hatte da eine klare Meinung: „Wenn die Leute kommen und Autogramme wollen, kann man doch nicht ‚Nein‘ sagen. Oder bei Kindern! Das Problem wird doch nicht besser, wenn man sagt: ‚Hau ab!‘ Zu Kindern sagt man nicht ‚Hau ab!‘“ Schließlich hat Seeler ja selbst drei Töchter, mit Ilka war er 63 Jahre verheiratet. Sein Enkel Levin Öztunali setzt die Familientradition als Profi fort, spielt nach einigen Vereinswechseln mittlerweile im Mittelfeld von Bundesligist Union Berlin.
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Die deutsche Fußballnationalmannschaft nimmt im Guanajuato-Stadion vor ihrem Gruppenspiel bei der Fußball-WM in Mexiko gegen Peru (3:1) Aufstellung für die Hymnen (2. von links nach rechts): Uwe Seeler, Sepp Maier, Karl-Heinz Schnellinger, Franz Beckenbauer, Hannes Löhr, Gerd Müller, Klaus Fichtel, Reinhard Libuda, Wolfgang Overath, Horst-Dieter Höttges, Berti Vogts.
© Quelle: Lothar Heidtmann/dpa
Trotz Achillessehnenriss: Seeler kämpft sich zurück
Seeler war volksnah, „einer von uns“, wurde deswegen zu „Uns Uwe“. Für sein Hamburg und seinen HSV, unweit von dessen früherer Trainingsstätte in Norderstedt er seit Jahrzehnten lebt, schlug er 1961 nach dreitägigen Verhandlungen sogar ein Millionenangebot von Inter Mailand aus, zu einer Zeit, als von Millionensummen im deutschen Fußball wirklich noch keine Rede war. Warum? „Am dritten Tag habe ich mich für die Kombination Beruf und Fußball entschieden, gegen Inter. Inter-Trainer Helenio Herrera hat mit dem Kopf geschüttelt. Ich habe den Dolmetscher gefragt: ‚Warum macht er das?‘ Der sagt: ‚Er hat es noch nie erlebt, dass jemand auf so viel Geld verzichtet.‘ Ich sag: ‚Dann ist das jetzt das erste Mal!‘“ Mehr als ein Steak könne er schließlich auch nicht essen, fügte Seeler seinen Ausführungen in unnachahmlicher Art an.
„Ich habe alles erlebt, was es auf der Welt gibt.“
Uwe Seeler
Dass Geld nicht alles ist, hatte ihm und seinem Bruder Dieter, der ebenfalls beim HSV spielte, Vater Erwin eingeimpft. Der war Hafenarbeiter und gleichzeitig Hamburger Fußballlegende, ein „Haudegen“, wie sein ungleich berühmterer Sohn mal sagte. Und dieser Haudegen gab seinen moralischen Kompass an seine Söhne, die zu ihm aufschauten, weiter: „Damit ihr das wisst: Weicheier will ich hier nicht haben!“, fuhr er sie an.
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Uwe Seeler am 26.10.1958 beim Länderspiel gegen Frankreich.
© Quelle: dpa
Seeler nahm sich diese Worte zeitlebens zu Herzen. Ein Weichei war er beileibe nicht. Er kam nach einem Achillessehnenriss, damals gleichbedeutend mit dem Karriereende, zurück und schoss die Nationalmannschaft der Bundesrepublik, für die er in 72 Länderspielen 43‑mal traf, mit einem Spezialschuh zur Weltmeisterschaft 1966 in England. Zur WM 1970 in der brutalen Hitze Mexikos ließ er sich für die Nationalmannschaft reaktivieren, ließ sich – schon 33 Jahre alt – sogar auf der laufintensiven Position als hängende Spitze aufstellen. „Auf dem Platz war kein Schatten. Auf dem Platz waren es 55 Grad. Der Wahnsinn. Heute würde man das nicht mehr zulassen. Aber zu der Zeit … Dass wir während des Spiels Wasser getrunken haben, das hat es nicht gegeben“, sagte er Jahrzehnte später über die Bedingungen im mexikanischen Sommer.
Trauer um Uwe Seeler: HSV-Star verstirbt mit 85 Jahren
Der Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft starb am Donnerstag im Alter von 85 Jahren.
© Quelle: Reuters
„Weltmeister wäre ich schon gern mal geworden.“
Uwe Seeler,
im Gespräch mit dem RND
Und dennoch erzielte er dort das Tor, das für immer auf Seite eins seines sportlichen Vermächtnisses verzeichnet sein wird. Im Viertelfinale von León lief gegen England bereits die 82. Spielminute, die Auswahl des DFB lag 1:2 zurück, als Karl-Heinz Schnellinger den Ball noch mal in die Strafraummitte flankte. Was dann passierte, erzählt Seeler am besten selbst: „Ich bin im Rückwärtslaufen und denke: ‚Oh, kommst du noch an den Ball?‘ Ich drehe mich, sehe, dass der Torwächter im kurzen Eck steht, springe mit einem Bein ab – und erwische den Ball mit dem Hinterkopf. Der Ball geht in den Winkel.“ Es war der Ausgleich, ein Tor mit dem Hinterkopf, ein Tor, das nur deswegen fiel, weil die Gegenspieler den Ball bereits im Toraus verorteten und nur der unermüdliche Kämpfer mit der Nummer neun auf dem Rücken noch daran glaubte, irgendwie den Ball erreichen zu können. Es wurde sein berühmtestes von so vielen spektakulären Toren. Am Ende gewann die Mannschaft, die von Kapitän Seeler aufs Spielfeld geführt worden war, mit 3:2.
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Uwe Seelers Hinterkopfballtor bei der WM 1970 ist bis heute legendär.
© Quelle: imago/Sven Simon
Seeler war bis zum Ende mit sich selbst im Reinen
Der Wille zur Aufopferung machte Seeler neben seinem Wesen und seinen fußballerischen Fähigkeiten zu dem Spieler, den sogar Fans des Gegners mit „Uwe, Uwe“-Sprechchören feierten. Vielleicht wurde er auch deswegen so verehrt, weil selbst ihm, dem Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft, das Scheitern nicht fremd war. Am großen Ziel WM-Titel scheiterte er bei allen vier seiner Teilnahmen, beim „Wunder von Bern“ 1954 war er noch nicht, beim Erfolg von München 1974 nicht mehr dabei. „Weltmeister wäre ich schon gern mal geworden“, sagte er dem RND beim Blick zurück. Auch die Jahre von 1995 bis 1998, in denen er versuchte, den Hamburger SV als Präsident zu führen, gelten nicht als die erfolgreichsten des Vereins – auch wenn ihm selbst keine Versäumnisse vorgeworfen wurden.
Am Ende wirkte Uwe Seeler trotz mehr und mehr gesundheitlicher Sorgen vor allem eins: mit sich selbst im Reinen. „Ich bin zufrieden – was will ein Mensch mehr? Ich trauere den Millionen nicht hinterher. Ich habe alles erlebt, was es auf der Welt gibt“, schwärmte er. Nur den Wiederaufstieg des Hamburger Sport-Vereins nicht. Und wer macht sich jetzt so Sorgen um „seinen HSV“, wie es „Uns Uwe“ immer getan hat?
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