Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine

Die Frontbilanz: Russlands Desaster und Selenskyjs „Punktsiege“

Russische Truppen in der Ukraine.

Russische Truppen in der Ukraine.

Artikel anhören • 7 Minuten

Etwa ein Jahr nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine gibt es in den Buchhandlungen von St. Petersburg neue Landkarten zu kaufen. Mehrere Wandkarten von Russland, Eurasien und der Welt, ja sogar ein Weltatlas wurden vom russischen Verlag Atlas Print überarbeitet und zeigen nun die vier völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Gebiete als russisches Staatsgebiet. Die vorübergehend besetzten Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson hatte Russland jedoch zu keinem Zeitpunkt vollständig erobert. Was haben die russischen Streitkräfte und was die ukrainische Armee nach einem Jahr erreicht?

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

+++ Alle aktuellen Entwicklungen im Liveblog +++

„Die Ukraine hat es geschafft, das Narrativ des übermächtigen russischen Militärs und der Unbesiegbarkeit Russlands zu zerstören“, sagt Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. Zu Beginn hatten selbst die USA geglaubt, dass die Ukraine innerhalb von 72 Stunden zusammenbrechen würde. Aber durch eine gute taktische Vorbereitung der ukrainischen Armee, der Übermittlung von Aufklärungsinformationen in Echtzeit und Waffenlieferungen aus dem Westen konnte die Ukraine die russischen Angriffe immer wieder abwehren, so Reisner im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Russen hätten sich dagegen zu Beginn des Kriegs „völlig verkalkuliert“, als sie dachten, die Ukraine mit wenigen Soldaten schnell einnehmen zu können.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Obwohl die Kämpfe in der Ukraine auch ein Jahr später noch andauern, kann Russland durchaus Erfolge vorweisen. Inzwischen halten sie 17 bis 18 Prozent des ukrainischen Territoriums besetzt, sagt Reisner. „Diese Teile der Ukraine haben eine große wirtschaftliche Bedeutung, weil dort zum Beispiel die großen Stahlwerke, Bergwerke und Weizenanbaugebiete der Ukraine liegen.“

Auch wirtschaftlich und strategisch wichtige Städte und Gebiete befinden sich in russischer Hand. Die Ukraine hat beispielsweise nur noch den Hafen in Odessa, über den sie Getreide exportieren kann. Die Hafenstadt Mykolajiw konnten die Russen zwar nicht erobern, doch die russischen Truppen am Südufer des Dnipro verhindern dort die Ein- und Ausfuhr der Schiffe.

In den besetzten Gebieten geht die russische Militärpolizei mit Willkür gegen die ukrainische Bevölkerung vor, foltert und tötet Einwohnerinnen und Einwohner. „Russlands Fähigkeit, sich in den besetzten Gebieten zu behaupten, hat sich als ebenso mangelhaft erwiesen wie die Fähigkeit, die gesamte Ukraine einzunehmen“, heißt es vom estländischen Geheimdienst. Der Kreml versuche, die Kontrolle an moskautreue Behörden zu übertragen, doch das Problem sei der Mangel an geeigneten und verlässlichen Mitarbeitern. „Daher werden viele Stellen mit Russen oder Einheimischen besetzt, die den Bewohnern völlig unbekannt sind.“

Von Flucht, Hoffnung und einem neuen Leben in Deutschland

Ein Jahr lang steht die Zeit für unzählige Ukrainerinnen und Ukrainer still. Einige können trotzdem schon wieder Hoffnung für die Zukunft schöpfen.

Die Gräueltaten in den besetzten Städten, darunter Butscha, Irpin und Isjum, haben im ersten Kriegsjahr verdeutlicht, dass es unter russischer Besatzung für die Menschen in der Ukraine keinen Frieden, sondern Unterdrückung, Terror und Tod gibt.

Die Ukraine konnte im ersten Kriegsjahr drei Erfolge vorweisen: Die Zurückdrängung der russischen Truppen vor Kiew, die Flucht der Russen vor der ukrainischen Armee in Charkiw und die Rückeroberung von Teilen Chersons. Aus militärstrategischer Sicht waren das allerdings nur „Punktsiege“. Oberst Reisner macht klar: „Möchte die Ukraine gewinnen, bräuchte sie aber einen entscheidenden Sieg über die russischen Kräfte auf dem Territorium der Ukraine.“ Er warnt davor, dass der anhaltende Abnutzungskrieg der Russen dazu führen kann, dass die Ukraine bis Mitte oder Ende des Jahres gezwungen sein könnte, einen Waffenstillstand einzugehen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Der Kreml steht unter Zeitdruck. Im Osten der Ukraine hat die russische Armee mit der neuen Großoffensive begonnen, um möglichst viel Land vor dem Eintreffen der ersten westlichen Kampfpanzer zu erobern. Westliche Waffen, die wie der Leopard 2 einen Unterschied im Gefecht ausmachen können, dürften frühestens Anfang April an der Front zum Einsatz kommen. In welcher Stückzahl ist noch immer nicht klar, viele werden es aber offenbar zunächst noch nicht sein.

Russland hat nun Zehntausende neue Wehrpflichtige und mobilisierte Reservisten an die Front geworfen, um die stark befestigten Stellungen der Ukraine anzugreifen. Entlang der gesamten Frontlinie sondieren die Russen mit kleinen Vorstößen, wo die Schwachstellen der Ukrainer sind. Die ukrainische Armee muss nun die Gebiete so lange wie möglich verteidigen, ohne ihre Ressourcen für eine eigene Offensive zu erschöpfen. Der Fokus liegt in der Region Donezk. Kämpfe gibt es dort zum Beispiel in den Städten Wuhledar und Bachmut. Die Russen haben einige Zufahrtswege nach Bachmut unter ihre Kontrolle gebracht und konnten in den vergangenen Tagen einige kleinere Orte nur wenige Kilometer entfernt einnehmen. In der Donbass-Region Luhansk versucht die russische Armee von Kreminna in Richtung Lyman vorzustoßen. Mit bis zu 100 Artillerieschlägen pro Tag ist ein neuer Höchststand seit letztem Sommer erreicht.

In Woronesch und Kursk nahe der nordöstlichen Grenze der Ukraine soll Russland neue Feldlager der Armee errichtet haben. „Wir glauben, dass diese Lager Reservisten beherbergen, und dies ist der erste Beweis, der ihren Einsatz näher an der Frontlinie bestätigt“, sagte Militärexperte Konrad Muzyka. Er rechnet damit, dass die Reservisten bald in die Ukraine verlegt werden. „Daher wird das Tempo der Angriffe zunehmen.“

Der Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) rechnet damit, dass die russische Armee noch bis zum Frühsommer in der Offensive bleiben wird, bevor ihre Kampfkraft nachlässt. „Moskau müsste bis Ende dieses Winters eine weitere Mobilisierungswelle ausrufen, um erweiterte Frontlinien halten zu können“, sagt Gressel. Die Ukraine werde in der ersten Jahreshälfte unter großem Druck stehen und nicht in der Lage sein, eine groß angelegte Gegenoffensive zu starten. Erst wenn der Waffennachschub aus dem Westen eintrifft, sei eine ukrainische Offensive in der zweiten Jahreshälfte möglich.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Dass die Ukraine viele Angriffe bisher erfolgreich abwehren konnte, ist laut Oberst Reisner vor allem auf die Echtzeitaufklärung westlicher Geheimdienste zurückzuführen. „Die Nato und vor allem die USA beobachten das Geschehen im Osten und Süden der Ukraine nahezu lückenlos.“ Die Daten werden direkt an die ukrainische Armee weitergeleitet. Dann erst kommt der Faktor Waffenlieferungen dazu.

Für die größten Erfolge der Ukraine war unter den gelieferten Waffen der Himars-Mehrfachraketenwerfer aus den USA verantwortlich, so Reisner. Damit konnten die ukrainischen Streitkräfte Munitionsdepots und Logistikumschlagorte bis zu 70 Kilometer hinter der Frontlinie zerstören. Die russischen Truppen mussten ihre Depots deshalb weiter ins Hinterland verlegen. Nun ist die Ukraine auf Raketen mit größerer Reichweite angewiesen, um Russlands Nachschubwege erneut unter Druck zu setzen.

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Verwandte Themen

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken