Feinde oder Freunde?

Nach Erdbebenhilfe: Annäherung zwischen der Türkei und Griechenland?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (Zweiter von links) und seine Frau Emine beim Besuch der Erdbebenopfer.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (Zweiter von links) und seine Frau Emine beim Besuch der Erdbebenopfer.

„Es sind Bilder, die wir nie vergessen werden“, sagt Kostas Athanasopoulos. Eine Woche war der griechische Feuerwehrmann als Retter im Katastrophen­gebiet in der Südosttürkei im Einsatz, in der schwer verwüsteten Stadt Antakya. Er denkt an Bilder wie die nackten Füße des kleinen Mädchens in den Trümmern eines eingestürzten Mietshauses. Nach vierstündiger Arbeit konnte das Team der griechischen EMAK-Rettungseinheit die Sechsjährige lebend befreien. „Da bin ich in Tränen ausgebrochen“, sagt Athanasopoulos. Er hat Glücksmomente erlebt, aber auch das Grauen. Die Sechsjährige klammerte sich an ihre tote Mutter. Lange musste Athanasopoulos auf das Mädchen einreden, bis es losließ. Für die Mutter und den kleinen Bruder der Sechsjährigen kam jede Hilfe zu spät. Zu den unauslöschlichen Erinnerungen gehören auch die Rufe der Verschütteten, „und wie sie nach und nach verstummten“, sagt der Feuerwehrmann.

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Fünf Menschen konnte die 36‑köpfige griechische Rettungs­mannschaft lebend befreien. Ein türkischer General besuchte die Griechen in ihrer Unterkunft, legte seine Hand aufs Herz und sagte: „Wir sind glücklich, dass es Euch gibt!“ Als die Männer vergangene Woche ihre Arbeit beendeten und mit ihren Suchhunden nach Griechenland zurückflogen, klatschten Flug­hafen­mitarbeiter am Airport Istanbul Beifall. Türkische Fluggäste schlossen sich spontan an, und so gingen die Retter durch ein Spalier applaudierender Menschen zu ihrem Abfluggate. Die regierungsnahe Tageszeitung „Hürriyet“ schrieb in großen Lettern auf Griechisch: „Efharisto poli file“ – Vielen Dank, Freunde!

Die Katastrophe hat die beiden zerstrittenen Völker einander näher gebracht. Was machen nun die Politiker? Ergreifen sie die Chance zu einer Annäherung? Griechen und Türken sind schwierige Nachbarn. Die vierhundert­jährige Türken­herrschaft über das heutige Griechenland ging zwar schon vor 200 Jahren mit dem griechischen Befreiungskrieg zu Ende. Aber im Bewusstsein vieler Griechen ist die türkische Besatzung stets präsent. Zumal es ständige Spannungen gibt, vom Streit um die Erdgas­vorkommen im östlichen Mittelmeer bis zu den Hoheitsrechten in der Ägäis. Diese Konflikte brachten beide Länder allein in den vergangenen 40 Jahren dreimal an den Rand eines Krieges.

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Aber es gab auch immer wieder Phasen der Entspannung. Wie im Sommer 1999, als nacheinander schwere Erdbeben erst die Nord­west­türkei und drei Wochen später die griechische Hauptstadt Athen erschütterten. Damals halfen griechische Retter in der Türkei, und türkische Rettungs­mannschaften eilten wenig später nach Griechenland. Wogen des Mitgefühls und der Hilfs­bereitschaft gingen durch beide Völker. Erst drei Jahre zuvor war der Streit um zwei unbewohnte Felseninseln in der Ägäis fast zu einem militärischen Konflikt eskaliert. Die Außenminister der beiden Länder, der Grieche Giorgos Papandreou und der Türke Ismail Cem, ergriffen die Chance, setzten sich an einen Tisch und vereinbarten vertrauens­bildende Maßnahmen. Das Wort der Erd­beben­diplomatie war geboren.

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Insgesamt sinken die Chancen, weitere Überlebende des Bebens zu finden.

Ist jetzt eine Neuauflage der damaligen Annäherung denkbar? Das will US‑Außenminister Antony Blinken sondieren, der am Sonntag in der Türkei eintraf und am Dienstag in Athen erwartet wird. Die USA bemühen sich um eine Vermittlung, denn der griechisch-türkische Dauerkonflikt schwächt die Ostflanke der Nato. Auch im Norden Europas hofft Blinken auf eine baldige Aufnahme Schwedens und Finnlands in die Nato. Die Vereinigten Staaten unterstützten eine Aufnahme „so schnell wie möglich“, sagte Blinken am Montag in Ankara. Beide Länder seien auch bereits mit konkreten Schritten auf die Türkei zugegangen. Die Türkei blockiert die Aufnahme bislang.

Auch in Athen hofft man auf eine Entspannung. Als einer der ersten ausländischen Regierungschefs rief der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis nach dem Beben den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an, um ihm sein Beileid auszusprechen.

In einem Interview sagte Mitsotakis, er glaube zwar nicht, dass ein Land wie die Türkei ihre Außenpolitik „von einem Moment zum nächsten“ ändere. Aber nach der Katastrophe gebe es „ein Klima der emotionalen Nähe zwischen den beiden Völkern“. Er fühle sich persönlich verpflichtet, das für eine Annäherung zu nutzen, sagte Mitsotakis.

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Der griechische Außenminister Nikos Dendias reiste ins Katastrophen­gebiet und wurde dort von seinem türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu mit einer Umarmung empfangen. „Wir sollten nicht bis zum nächsten Erdbeben warten, um unsere bilateralen Beziehungen zu verbessern“, sagte Cavusoglu. Er sprach von „einer neuen Seite“ im Verhältnis zu Griechenland und versicherte: „Wir wollen Stabilität und Frieden in unserer Region.“

Ob sich dieser Wunsch erfüllt, hängt vor allem von Erdogan ab. Doch der schweigt bisher zum Thema Griechenland. Noch wenige Wochen vor dem Erdbeben kündigte er den Nachbarn mit den Worten „Wir können plötzlich über Nacht kommen“ eine Invasion an und drohte mit Raketenangriffen auf die Vier­millionen­stadt Athen. Vor allem seit dem Putschversuch vom Juli 2016 kultiviert Erdogan das Feindbild Griechenland. Jetzt könnte er es mehr denn je gebrauchen. Spätestens in vier Monaten stehen Parlaments- und Präsidenten­wahlen in der Türkei an. Wegen der miserablen Wirtschaftslage muss Erdogan erstmals seit 20 Jahren den Verlust der Macht fürchten. Die Erdbeben­katastrophe bringt ihn zusätzlich unter Druck. Nicht nur die Kritik am Krisen­management wächst. Erdogan ist auch mit dem Vorwurf konfrontiert, dass seine Regierung in den vergangenen Jahren Millionen unsichere Schwarzbauten legalisierte.

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Erdogan könnte im Vorfeld der Wahlen versuchen, mit neuen Verbal­attacken gegen den „äußeren Feind“ Griechenland von den Wirtschafts­problemen und den Versäumnissen bei der Bewältigung der Katastrophe abzulenken. In diese Kerbe schlägt bereits der türkische Admiral a. D. Cihat Yayci, ein prominenter Vordenker der expansionistischen Außenpolitik Erdogans. Er äußerte den Verdacht, eigentliche Absicht der griechischen Katastrophen­helfer und ‑helferinnen sei es nicht gewesen, Menschen­leben zu retten, sondern militärische Ziele in der Türkei auszuspionieren.

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