Meine Großmutter – die Frau, die über Auschwitz triumphierte

„Mut? Ich habe nicht ein Zehntel von ihrem Mut“: Daniel Dor mit seiner Großmutter Toni Dreilinger in Tel Aviv.

„Mut? Ich habe nicht ein Zehntel von ihrem Mut“: Daniel Dor mit seiner Großmutter Toni Dreilinger in Tel Aviv.

Daniel Dor, können Sie sich an den Moment erinnern, als Ihnen klar wurde, dass Ihre Großmutter in Auschwitz gequält wurde?

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Diesen Moment gab es nicht. Ich habe das immer gewusst. Drei meiner Großeltern sind Holocaust-Überlebende – meine polnische Großmutter Toni, mein deutscher Großvater Josef und meine Großmutter Hilda. Auschwitz, Bergen-Belsen, das Wissen war immer da seit dem Tag, an dem ich geboren wurde. Keiner hat etwas versteckt. Wir wussten, wir kommen aus einer Familie von Überlebenden – das heißt gleichzeitig, aus einer Familie, die die meisten ihrer Mitglieder im Holocaust verloren hat.

Hat Sie dieses Wissen verletzt? Studien zeigen, dass das Holocaust-Trauma noch in der Generation der Enkel nachwirkt.

Ich kenne diese Studien. Aber ehrlich: Ich lebe in Israel. Die bessere Frage wäre wahrscheinlich: Was hat dich mehr traumatisiert – Auschwitz oder Tel Aviv? Als ich klein war, sind bei uns irakische Raketen eingeschlagen. Als ich größer war, wusste ich nie, ob der Bus, in dem ich zur Schule fuhr, von einem Selbstmordattentäter gesprengt wird. Nein, das Trauma des Holocaust war die geringste meiner Sorgen. Es war Teil meines Alltags – aber nicht meines Lebensgefühls.

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Was ist Ihre Großmutter Toni Dreilinger zuallererst für Sie: Überlebende oder eben Großmutter?

Das kann ich gar nicht so direkt beantworten. Meine Großmutter war ein sehr besonderer Mensch, für jeden, der sie traf. Es war der größte Verlust meines Lebens, als sie vor zwei Jahren starb. Ich denke, das Überleben des Holocaust und dass sie darüber redete, mit Menschen in Deutschland und Israel, war Teil ihrer Persönlichkeit. Ein Großteil ihrer Lebenserfahrung, ihres Wesens, ihrer Weisheit ist dieser Zeit geschuldet. Du kannst das nicht trennen, Überlebende und Großmutter Toni, das ist eins.

Ihre Freunde sagen, Sie hätten Courage. Hat Toni, die aus Auschwitz geflohen ist, Sie gelehrt, mutig zu sein?

Das ist ein schöner Gedanke! Ich bin nicht einmal ein Zehntel so mutig, wie sie es war. Im November 1944 war Toni gerade 18 Jahre alt, ihre Familie war ermordet worden, sie ist gefangen im schlimmsten Vernichtungslager der Nazis – und da findet sie den Mut, sich an den Wachen vorbei in einen der Waggons zu schmuggeln, die das Mädchenorchester von Auschwitz nach Bergen-Belsen bringen, weil sie weiß, dass sie dann eine Überlebenschance hat. Wenn ich etwas Couragiertes tue im Alltag, den Mund aufmache – ja, dann ist sie der Grund. Wir Enkel haben von ihr gelernt, Verantwortung für alles zu übernehmen, was wir tun, und es einzuordnen.

Ihre Großeltern waren als Zeitzeugen sehr engagiert. Toni hat jeden ihrer sechs Enkel einmal mitgenommen, wenn sie zu einem Gedenktag nach Bergen-Belsen reiste. Warum?

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Aus drei Gründen: Zuallererst wollte sie der Welt durch uns zeigen, dass sie triumphiert über die Nazi-Vernichtungsmaschine, dass sie Auschwitz besiegt hat. Aber sie wollte in uns Enkeln auch das jahrhundertealte Erbe der europäischen Juden, ihrer Freiheit und ihrer Kultur vor dem Krieg wiederbeleben. Und schließlich wollte sie der nächsten Generation klarmachen, was die Bedeutung des Staates Israel ist – nämlich das jüdische Volk zu verteidigen und zu schützen.

Wie wichtig ist das Europäischsein Ihrer Großmutter für Ihr eigenes Selbstverständnis?

Sehr. Ich habe einige europäische Wesenszüge.

Das sind …?

Liberalität. Wertschätzung der Menschenrechte. Verständnis und Sorge für andere. Interesse an Kultur und Kunst. Manieren und Respekt.

Und das steht im Gegensatz zu Ihren israelischen Wesenszügen?

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Nicht im Gegensatz! Dies ist der israelische Anteil: Wir versuchen, das Beste aus allen Welten zu nehmen und eine perfekte Mischung daraus zu schaffen.

Die Enkel der Überlebenden werden als „die dritte Generation“ bezeichnet. Viele dieser Nachkommen beantragen jetzt europäische Pässe und bringen damit zum Ausdruck, dass sie auch dieses Erbe als ihres ansehen. Können Sie das verstehen?

Ich würde das nicht überhöhen. Für die meisten, denke ich, ist das ganz einfach eine Chance, sich Optionen offenzuhalten, auch ökonomisch. Das Leben in Israel ist manchmal sehr eng, es gibt viel Druck. Da fühlen sich manche vielleicht wohler in Berlin. Das verstehe ich.

Das Erste, was Sie als Ihr europäisches Erbe nannten, war Liberalität. Warum?

Ich denke, das bezieht sich vor allem auf die zurückliegenden 70 Jahre. Nach dem Krieg wurde Europa der liberalste Ort der Welt. Es hatte allerdings auch davor schon ein tolerantes Europa gegeben, in dem Juden frei und respektiert leben konnten.

Das klingt fast schwärmerisch.

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Ich bin 33 Jahre alt. Wenn wir heute an Europa oder Deutschland denken, dann denken wir nicht an die mörderischen Zeiten. Wir verstehen, dass ihr gelernt habt. Die erste und die zweite Generation hatten teilweise Vorbehalte gegen Deutsche, meine Generation nicht. Die meisten meiner Freunde haben auch deutsche Freunde. Wir arbeiten zusammen, wir feiern Partys zusammen. Da sprechen wir nicht über die Geschichte. Wir können jungen Deutschen nicht das vorwerfen, was ihre Großeltern oder Eltern taten. Da bin ich entspannt. Das heißt nicht, dass ich mich nicht erinnere – aber der Gedanke ist einfach nicht da.

Nie?

Na ja, wir sehen eine Menge Trends in Europa und der Welt und sehen Ähnlichkeiten zu den schlechten Zeiten vor dem Krieg. Sogar in Deutschland, Großbritannien und den USA. Darüber reden wir.

Sprechen Sie von offenem Antisemitismus oder von Gesellschaften, die auseinanderdriften, ähnlich wie vor dem Aufstieg der Nazis?

Beides. Ich habe mich viel mit Geschichte beschäftigt, ich mache mir Sorgen um die Zukunft Europas.

Sehen Sie die Demokratie – wieder – in Gefahr?

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Demokratie ist nicht der wichtigste Begriff, Demokratie ist nur eine Methode. In Israel funktioniert sie gerade nicht so gut. Wichtiger ist: Der Respekt für andere geht immer mehr verloren, für die Meinungsfreiheit, die Wahrheit und den Wert von Leben. Das sind die wichtigsten Konfliktpunkte. Das ist mir erst so richtig klar geworden, als ich in Auschwitz war.

Wann war das?

2014. Fast zehn Jahre vorher war ich mit Toni in Bergen-Belsen gewesen. Ich wollte damals die Geschichte meiner Großeltern verstehen, die sich dort nach der Befreiung 1945 kennengelernt hatten. Das war ganz und gar persönlich, familiär. Die volle Geschichte habe ich erst in Auschwitz verstanden. Ich war Soldat, wir haben mit der israelischen Armee die deutschen Lager in Polen besichtigt. Da wusste ich, dass Auschwitz mehr als eine jüdische Geschichte ist. Es ist eine universelle Geschichte.

Was meinen Sie damit?

Auschwitz zeigt, wie grausam die Menschheit sein kann. Egal ob es sich gegen Juden richtet, gegen Armenier in der Türkei, Dissidenten in der Sowjetunion: Es ist alles nur eine Frage, ob du zur falschen Zeit auf der falschen Seite bist. Die Menschen sind zu schrecklichen Taten fähig. Das Ziel verschiebt sich immer wieder, aber die Grausamkeit ist die gleiche. Mit dem Krieg hat nichts geendet. Im Moment habe ich nur Glück, dass diese Mördermaschine sich gerade nicht gegen mich und meine Familie richtet. Die menschliche Zerstörungswut hat heute andere Opfer, Menschen in anderen Regionen, Tiere, den Planeten an sich.

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Entschuldigung, aber Sie denken an Tierquälerei, wenn Sie in Auschwitz sind?

Ja. Ich bin Veganer, seit ich mir die ganze Widerlichkeit der Fleischindustrie klargemacht habe. Ich selbst habe Tiere auch immer nur als Tiere gesehen. Aber nach Auschwitz geht das nicht mehr. Weil Auschwitz lehrt, dass Respektlosigkeit gegenüber dem Leben immer ins Verderben führt, egal welches Leben es ist. Und dass die Menschheit jetzt extreme Schritte tun muss, um diese Erde vor ebendieser Menschheit zu schützen. Ich bin gewiss nicht der Einzige meiner Generation, der diese Verbindung herstellt.

Könnte Toni diesen Gedankengang nachvollziehen – oder hätte sie Sorge, dass ihr die Einzigartigkeit des Holocaust vergesst?

Sie weiß ganz bestimmt, dass wir nicht vergessen. Können wir gar nicht. Wir werden täglich daran erinnert, wenn Juden angegriffen werden, nur weil sie jüdisch sind. Sie würde meine Sichtweise akzeptieren. Wir müssen nicht ermahnt werden, uns zu erinnern.

Es gibt nur noch wenige Tonis, die von der Verfolgung und vom Überleben berichten können. Was wäre ein guter neuer Weg des Erinnerns und des Vorwärtsgehens?

Erinnern ist leicht. Du hast heute so viele Möglichkeiten. Schauen Sie sich mal die Instagram-Story an, die das Tagebuch der 13-jährigen Eva Heyman, eines Auschwitz-Opfers, nacherzählt. Eine großartige Idee, Menschen unserer Zeit etwas so zu erzählen. Das ist sogar noch machtvoller, als meiner Großmutter in einem Raum voller Leute zuzuhören.

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Aber?

Vorwärts gehen ist der schwierige Teil. Denn dafür müsste die Welt sehen, dass Deutsche, Europäer, Israelis, alle von der Vergangenheit gelernt haben. Ich wünschte aber, die EU wäre positiver gegenüber Israel und dem jüdischen Volk insgesamt. Natürlich gibt es Extremisten, die Land besetzen wollen. Und ja, mit der jetzigen Regierung bin ich überhaupt nicht einverstanden. Aber wir wollen in Frieden leben – und Israel muss die Juden beschützen. Wenn ich heute den neuen Antisemitismus sehe in Großbritannien und Deutschland, dann weiß ich: Das Einzige, was hilft, ist, aktiv zu werden. Überall in Großbritannien, vor allem in London, tauchen Graffiti und Plakate auf, die Juden verunglimpfen, aber: Du kannst auch überall christliche Briten sehen, die die Plakate abreißen und die Graffiti übermalen. Wir nehmen das in unsere Hand, sagen sie, weil die Regierung es nicht tut. Und weil wir wollen, dass unsere jüdischen Nachbarn sich sicher fühlen. Solche Taten, nicht Worte sorgen dafür, dass unsere Zukunft besser wird.


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