„Unsere Kinder waren keine Fremden“

Hanau: Zwei Frauen liegen sich trauernd in den Armen.

Hanau: Zwei Frauen liegen sich trauernd in den Armen.

Hanau. Man kann nur erahnen, was jetzt in ihm vorgeht, wie er sich fühlt, welche Bilder er in seinem Inneren vor sich sieht. Vor genau einem Jahr ist sein Sohn Hamza gestorben, wurde erschossen von einem von Hass und Rassismus getriebenen Mörder, mit gerade einmal 23 Jahren. Und jetzt, an diesem ersten Jahrestag, steht Armin Kurtovic im Brüder-Grimm-Saal des Hanau Congress Parks, vor einer Kamera, die seine Stimme und sein Bild per Stream in die Welt trägt, und soll Worte finden für das, was sich kaum in Worte fassen lässt.

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„Nichts ist für uns mehr, wie es war“, sagt Armin Kurtovic. „Tagtäglich sind wir gezwungen, mit dem Verlust unserer eigenen Kinder zu leben.“ Zwischendurch stockt er immer wieder, seine Stimme bricht kurz ab, bevor er weitersprechen kann.

„Nichts ist für uns mehr, wie es war“: Armin Kurtovic, Vater des getöteten Hamza, bei seiner Rede.

„Nichts ist für uns mehr, wie es war“: Armin Kurtovic, Vater des getöteten Hamza, bei seiner Rede.

Neun Menschen hat der Mörder, ein 43-jähriger psychisch kranker, dazu rassistisch verblendeter Deutscher an jenem 19. Februar 2020 in Hanau erschossen, bevor er auch seine Mutter und sich selbst tötete. Bei dieser Gedenkfeier zum ersten Jahrestag halten der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier und Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky keine Reden, sie lesen lediglich die Namen dieser neun Opfer vor: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Păun, Fatih Saracoglu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov. „Wir werden sie nie vergessen“, sagt Bouffier. Dann schweigen die Politiker.

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Wegen der Pandemie sind im Saal selbst nur 50 Personen zugelassen, es sind vor allem die Angehörigen der Opfer, die Familien. Der Bundespräsident hatte von Beginn an die Nähe der Familien gesucht, hat sie ins Schloss Bellevue eingeladen und ihnen vor dem Jahrestag einen Brief geschrieben. „Ein Jahr ist es her. Ist die Trauer nun gewichen? Ist der Schmerz geringer, die Wut verflogen? Sind alle Fragen beantwortet?“, fragt Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede – um selbst die Antwort zu geben: „Nein, keineswegs.“

Erinnerung an jeden Einzelnen

Was er dann sagt, klingt demütig, fast wie eine Bitte um Vergebung. „Ich bin hier, weil mich zutiefst bedrückt, dass unser Staat sein Versprechen von Schutz, Sicherheit und Freiheit, das er allen gibt, die hier gemeinsam friedlich leben, gegenüber Ihren Angehörigen nicht hat einhalten können“, sagt der Bundespräsident.

Es ist Armin Kurtovic, der an diesem Tag im Namen der Angehörigen spricht und an die Toten erinnert, an jeden Einzelnen. An Fatih, „der viel lachte und gerade dabei war, seine eigene Firma aufzubauen“. An „Ferhat, der viel zugehört hat und immer den passenden Rat hatte“. An „Gökhan, der sich zuerst um alle anderen gekümmert hat, bevor er an sich selbst dachte“. An „Valoyan, der nach Deutschland kam, um die Augenoperation seines Sohnes bezahlen zu können“. An „Mercedes, die eine liebevolle Mutter und die beste Freundin ihrer Kinder war“. An „Said Nesar, der immer ein Lächeln im Gesicht hatte und andere zum Lachen brachte“. An „Sedat, der die Freiheit, den Sommer und das Reisen liebte“. An Vili, der den Täter in seinem Wagen verfolgte und dann von ihm erschossen wurde, „der das einzige Kind seiner Eltern war, der tragische Held des Abends“.

Und an Hamza, seinen eigenen Sohn. „Der Sonnenschein der Familie.“

Der Notruf, der ins Leere ging

Doch zur Geschichte von Hanau gehört nicht nur die Trauer, sondern auch der Zorn der Angehörigen vor allem auf die Polizei und Ermittlungsbehörden. Wie konnte es sein, dass Notrufe in jener Nacht ins Leere gingen? Wieso durfte der Täter, der schwer psychisch krank war und wahnhaft-wirre Anzeigen verfasste, überhaupt Waffen besitzen? Warum störte die Behörden nicht, dass der Notausgang in der Arena Bar, einem der Tatorte in jener Nacht, verschlossen war? Und wieso durften sie ihre Angehörigen erst nach der Obduktion sehen, in einem Zustand, der viele von ihnen zusätzlich verstörte?

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Kurtovic bedankt sich beim Bundespräsidenten, für die „aufrichtige, mitfühlende Begleitung“, ebenso wie beim Hanauer Oberbürgermeister, der Hanauer Zivilgesellschaft. Vor allem klagt Armin Kurtovic an. „Es wäre keine ehrliche Rede, wenn ich nicht über die öffentlichen Missstände, den mangelnden Aufklärungswillen sprechen würde.“ Bei den „zuständigen Stellen“ würden sie immer wieder abgewiesen. „Das ist sehr bitter, und es tut weh.“ Von „wohlbekannten Versäumnissen“ spricht er, von Anzeigen, wie gegen den Vater des Täters, der ihn unterstützt haben soll, die die Angehörigen selbst stellten. Doch noch immer fehlten viele Antworten.

Den Tatort immer vor Augen

Es gehört zum Bemerkenswerten dieses Abends, dieser Begegnung, dass Steinmeier selbst indirekt diese Versäumnisse anerkennt, dass er selbst darauf dringt, die offenen Fragen zu beantworten. „Wo es Fehler oder Fehleinschätzungen gab, da muss aufgeklärt werden“, sagt Steinmeier. Aufklärung und Aufarbeitung stünden nicht in freiem Ermessen. Als „Bringschuld“ des Staates gegenüber der Öffentlichkeit bezeichnet Steinmeier sie – und „vor allem gegenüber den Angehörigen“. Der Staat sei jetzt gefordert. „Aber genauso sind wir es, jeder und jede von uns.“

Es ist eine persönliche, versöhnliche Rede, die Steinmeier hält. Unsicher ist, ob sie die Trauernden erreicht. Armin Kurtovic ist wurde in Schweinfurt geboren, er ist Deutscher, es ist auch sein Staat, der ihm in diesem Jahr immer fremder geworden ist.

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Dann läuten in Hanau fünf Minuten und sechs Sekunden lang die Kirchenglocken. So lange, wie der Täter brauchte, neun Menschen zu erschießen.

Irgendwann an diesem Abend fährt Armin Kurtovic wieder nach Hause, in seine Wohnung in der Hanauer Kesselstadt. Von seinem Balkon aus sieht er jeden Tag auf den Ort, an dem sein Sohn starb. Selbst wenn er es wollte, er kann diesem Anblick gar nicht entkommen.

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