Putins „Rede zur Lage der Nation“

Ein Wutauftritt, der niemanden weiterbringt

Wladimir Putin, Präsident von Russland, gestikulierend während seiner jährlichen „Rede zur Lage der Nation“.

Wladimir Putin, Präsident von Russland, gestikulierend während seiner jährlichen „Rede zur Lage der Nation“.

Moskau. Die jährliche „Rede zur Lage der Nation“ hat im modernen Russland eine lange Tradition. Seit sie der damalige Präsident Boris Jelzin 1994 zum ersten Mal hielt, ist sie nur zweimal ausgefallen – beide Male unter Wladimir Putin: 2017 verschob er die bis dahin am Ende des Jahres gehaltene Rede auf den 1. März 2018 und funktionierte sie so zu einem Wahlkampfauftritt für die zwei Wochen später angesetzte Präsidentschaftswahl um.

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Deutlich ernster waren die Gründe für die Streichung der Rede im vergangenen Jahr 2022. Putin selbst begründete den weggefallenen Auftritt mit der „Dynamik der Situation“. Gemeint war natürlich der Einfall russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022, und der ist es auch, der der Rede, die Putin heute zum ersten Mal seit 2021 wieder hielt, besondere Brisanz verlieh.

Denn hatte die „Rede zur Lage der Nation“ in Russland bislang stets das übergeordnete Ziel, die Beständigkeit der Verhältnisse zu bekräftigen, so ist diese Stabilität seit dem 24. Februar 2022 verloren gegangen. Wie wird das ukrainische Abenteuer enden, was wird danach kommen? Das ist eine Frage, die auch in Russland gestellt wird, und die mit der bisherigen Formel „Wir entwickeln uns im gewohnten Stil erfolgreich immer weiter“ nicht mehr beantwortet werden kann.

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„Auf ihr verlogenes Verhalten sogar noch stolz“

Doch lieferte Putin auch in dieser außergewöhnlichen Situation wieder nur das gewohnte Narrativ, angereichert mit Ausfällen gegen den Westen von bisher ungekanntem Ausmaß. Die erste Hälfte seiner Rede verwandte er darauf, den russischen Angriff auf die Ukraine mit altbekannten Formeln zu begründen und zu versichern, dass Russland seinen Feldzug unbeirrt fortsetzen werde.

Es sei das Vorgehen der westlichen Länder gewesen, die den Kreml vor einem Jahr zum Einmarsch in die Ukraine gezwungen hätten: „Russland hat sein Bestes getan, um das Problem in der Ukraine friedlich zu lösen, aber die Erklärungen westlicher Führer haben sich als betrügerisch und unwahr herausgestellt“, schimpfte der russische Präsident im Veranstaltungs- und Ausstellungskomplex Gostinyy Dvor in der Nähe des Roten Platzes. „Inzwischen räumen sie ja selbst ein, dass sie nur Zeit gewinnen wollten. Sie sagen, das Normandieformat sei ein Bluff gewesen, und sie sind auf ihr verlogenes Verhalten sogar noch stolz.“

Putin gibt Westen Schuld an Krieg gegen Ukraine

In seiner Rede zur Lage der Nation wirft Wladimir Putin dem Westen vor, einen lokalen Konflikt in einen globalen zu verwandeln.

Die Zeit habe der Westen genutzt, die Ukraine an westlichen Waffen zu schulen, mit Luftabwehrsystemen, Kampfbombern und geheimen Biowaffenlaboren auszustatten. Sogar Atomwaffen seien im Gespräch gewesen. Den ukrainischen Kriegsschauplatz bezeichnete er als „historisches russisches Land“.

Schuld ist der Westen

„Sie sind es, die den Krieg entfesselt haben. Und wir müssen jetzt Gewalt anwenden, um ihn zu beenden“, gab er sich unter großem Beifall der versammelten Abgeordneten aus beiden Häusern des russischen Parlaments als Opfer. „Sie haben den Geist aus der Flasche gelassen und ganze Regionen ins Chaos gestürzt.“

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Mit seiner Militärhilfe für die Ukraine und den Sanktionen gegen Moskau forciere der Westen den Konflikt immer weiter. „Die Verantwortung für das Anheizen des Ukraine-Konflikts, für seine Eskalation, für die Zahl der Opfer ... liegt voll und ganz bei den westlichen Eliten“, sagte Putin und gab an, die westlichen Führungsschichten versuchten, „Russland eine strategische Niederlage zuzufügen“.

Ein Mann in Russland macht ein Selfie vor einem Fernsehbildschirm, auf dem Wladimir Putin während seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation zu sehen ist.

Ein Mann in Russland macht ein Selfie vor einem Fernsehbildschirm, auf dem Wladimir Putin während seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation zu sehen ist.

Auf naheliegende Fragen geht Putin nicht ein

Seine Vorwürfe unterstrich der russische Präsident laufend mit Begriffen wie „Neonazi-Regime“ oder „Kiewer Regime“ in Bezug auf die gewählte Führung der Ukraine und vermittelte so den Eindruck, als sei es alternativlos, den Kampf gegen das Nachbarland fortzusetzen. Der werde ja auch siegreich enden: „Schritt für Schritt werden wir die anstehenden Probleme lösen.“

Dass die militärischen Rückschläge, die Russland seit einem Jahr in der Ukraine erlebt, diesen Schluss kaum zulassen, darauf ging Putin nicht ein. Ebenso wenig lieferte er längst überfällige Erklärungen dafür, welche anstehenden Probleme aus seiner Sicht eigentlich genau gelöst werden sollen und welche Ziele der Kreml in der Ukraine inzwischen konkret verfolgt.

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Geht es nur um den Donbass, in dem sich Russland inzwischen in einem Abnutzungskrieg befindet, bei dem kaum etwas vor oder zurück geht? Oder soll das nur der Anfang weiterer Annexionen sein? Dazu sagte der Kremlchef nichts, ebenso wenig wie zu einer möglichen Verhandlungslösung, um den Konflikt beizulegen.

ARCHIV - 09.12.2019, Frankreich, Paris: Wolodymyr Selenskyj (l-r), Präsident der Ukraine, Angela Merkel (CDU), ehemalige Bundeskanzlerin, Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, und Wladimir Putin, Präsident von Russland, nehmen an einer gemeinsamen Pressekonferenz im Elysee-Palast teil. Das Treffen im Dezember 2019 war das letzte Mal, dass sich die Staats- und Regierungschefs der vier Nationen persönlich trafen, um zu versuchen, das 2015 ins Stocken geratene Friedensabkommen für die Ostukraine wiederzubeleben. Am 24. Februar 2023 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. (zu dpa "Wie wird der Ukraine-Krieg enden?") Foto: Charles Platiau/Reuters Pool/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Kriegsparteien können nicht „an den Verhandlungstisch gezwungen werden“

Der Philosophieprofessor Thomas Kater fordert ein Jahr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine eine Friedensperspektive. „Wir müssen über diesen konkreten Krieg hinausdenken“, sagt er. Zugleich kritisiert er ein moralisches Schwarz-Weiß-Denken.

Vorteile der jetzigen Konfliktsituation aus Sicht des Kremls

Vielmehr betonte er, inwiefern Russland aus seiner Sicht von der militärischen Auseinandersetzung in der Ukraine profitieren werde. Russlands Ziel sei es, die Streitkräfte des Landes zu stärken, „durch die Erfahrungen, die wir bei der ‚Spezialoperation‘ gewinnen“. Offiziere und Feldwebel, die sich in moderner Kriegsführung auskannten, würden künftig schneller befördert werden. „Und wir werden künftig Militärtechnik produzieren, die besser ist als Systeme aus dem Ausland.“

Einen ähnlichen Schluss zog Putin in Bezug auf das umfassende Sanktionspaket des Westens gegenüber seinem Land: „Russland befindet sich nicht nur in einer militärischen Auseinandersetzung, sondern auch in einem Wirtschaftskrieg“, sagte er. „Sie haben uns unsere Währungsreserven gestohlen, (…) doch wir haben unsere Bürger geschützt“.

Die Prognosen für das russische Wirtschaftswachstum seien im Jahresverlauf immer positiver ausgefallen. Erst hätten die Expertinnen und Experten des Landes mit einem Minus von 5,0 Prozent, dann von 2,9 Prozent gerechnet, nun liege der Wert bei minus 2,1 Prozent. Und das angesichts drastischster Sanktionen und der westlichen Prognose vom Februar 2022, dass die russische Wirtschaft kollabieren werde.

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Erstaunlich widerstandsfähige Wirtschaft Russlands

Diesem Aspekt widmete Putin den zweiten Teil seiner Rede, und da wirkte er nicht so giftig und rationaler, so wie bei seinen früheren Auftritten, als es nicht um Kriege ging, sondern um Wirtschaft, Soziales und vor allem Zahlen, mit denen sich der Kremlherrscher anerkanntermaßen gut auskennt.

Und er konnte mit vielen Kenndaten belegen, warum es der russischen Wirtschaft trotz der westlichen Sanktionen erstaunlich gut geht: „Im Jahr vor der Pandemie hatten wir eine Arbeitslosigkeit von 4,7 Prozent, jetzt liegt sie bei 3,7 Prozent – ein Rekordtief.“ Die Inflation regle sich im Augenblick bei 4 oder 5 Prozent ein. „Andere Länder haben 13 Prozent.“ Die Landwirtschaft Russlands habe noch nie ein besseres Jahr als 2022 erlebt und etwa 150.000 Tonnen Getreide produziert.

Tatsächlich gestehen der Internationale Währungsfonds und westliche Beobachterinnen und Beobachter der russischen Wirtschaft eine erstaunlich resiliente Verfassung zu, die sie in die Lage versetzte, den westlichen Sanktionen weitgehend zu trotzen. Ob diese Widerstandskraft allerdings so weit trägt, dass die russische Wirtschaft als autonomere Kraft nach ihrer Loslösung vom Westen zu neuen Höhen streben wird, wie es Putin in seiner Rede ankündigte, darf bezweifelt werden.

ARCHIV - 15.09.2022, Ukraine, Isjum: Ein Blick auf nicht identifizierte Gräber von Zivilisten und ukrainischen Soldaten, die von russischen Streitkräften zu Beginn des Krieges getötet worden sein sollen, auf einem Friedhof in der kürzlich zurückeroberten Stadt. Am 24. Februar 2023 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. (zu dpa «Was von einem Jahr Krieg besonders in Erinnerung bleibt») Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Wie Russlands Krieg an der Weltordnung rüttelt

Putins Krieg gegen die Ukraine teilt die ganze Welt neu ein. Die Frontlinie verläuft nicht nur zwischen Russen und Ukrainern, sondern zwischen Demokratien und Diktaturen. Auf bittere Weise muss auch Deutschland wieder aufrüsten, um Kriegsverbrecher auf Abstand zu halten.

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Wenig Raum für Zuversicht

Und so bot der Auftritt des Kremlherrschers außer Zweckoptimismus in Bezug auf die militärische Entwicklung in der Ukraine und die weitere wirtschaftliche Entfaltung Russlands keine konkreten Anhaltspunkte, wie es im Konflikt zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen weitergehen könnte.

Dass Putin am Schluss der Rede ankündigte, den letzten großen bestehenden atomaren Abrüstungsvertrag New Start mit den USA auszusetzen und mit den Worten „Die Wahrheit ist mit uns“ schloss, bietet wenig Raum für Zuversicht auf eine friedlichere Welt – weder im Westen noch in Russland.

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