Überraschungsbesuch in Kiew

Die Weltmacht im Rücken: Wie Ukrainer auf den Biden-Besuch reagieren

US-Präsident Joe Biden bei seinem Überraschungsbesuch am Montag in Kiew.

US-Präsident Joe Biden bei seinem Überraschungsbesuch am Montag in Kiew.

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Kiew. Die Sirenen heulen am Vormittag auf. Die Kiewer lassen sich von dem schrillen Ton nicht mehr im Alltag stören. Ein weiterer Tag im Krieg mit Russland hat begonnen. Noch weiß niemand, dass ein prominenter Gast den Luftalarm miterlebt hat. US‑Präsident Joe Biden erreichte auf geheimen Wegen die ukrainische Hauptstadt am Morgen. Wenig später blinkten die Warn-Apps auf den Handys auf und die Sirenen erinnerten die Menschen an die alltägliche Gefahr vom Himmel.

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Die Stadt lebt inzwischen mit dem Krieg wie mit einer zweiten Haut, die niemand will. Während Joe Biden zusammen mit Präsident Wolodymyr Selenskyj der Toten des Krieges gedenkt, wuseln die Straßen in der Innenstadt vor Menschen. Sie strömen in die Geschäfte. Einige sitzen auf den Terrassen der Cafés und genießen in der Jahreszeit ungewohnte Sonnen­strahlen. Der Himmel über Kiew ist blau. Die Kulisse am zentralen Maidanplatz wirkt perfekt für einen historischen Staatsbesuch.

Wer vom Maidanplatz am Hotel Ukraina vorbei die Instytutska-Straße entlangläuft, stößt schließlich auf eine Straßensperre. Gepanzerte Fahrzeuge versperren den Weg zum Präsidentenpalast an der Bankova-Straße. Internationale Fernsehteams haben sich unterhalb des Hotels Ukraina auf dem Maidan platziert. Viele nutzen eine Rasenfläche als Drehort. Dort befindet sich ein Feld von Fahnen. Sie erinnern an die Toten des russischen Angriffskriegs. Die meisten Flaggen sind blau-gelb, also ukrainisch. Es finden sich aber auch amerikanische und andere ausländische Flaggen im Ehrenfeld. Sie sollen an Journalistinnen und Journalisten und humanitäre Helfende erinnern, die in fast einem Jahr Krieg getötet worden sind.

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„Es ist großartig, dass Biden in Kiew ist. Das ist der erste Besuch eines US‑Präsidenten seit 15 Jahren“

Zwei junge Frauen machen mit Kaffeebechern in der Hand unweit des Ehrenfeldes Mittagspause. Die Nachricht vom hohen Besuch aus Washington scheint ihnen die Pause zu versüßen. „Es ist großartig, dass Biden in Kiew ist. Das ist der erste Besuch eines US‑Präsidenten seit 15 Jahren. Und dass er jetzt kommt, ist ein Zeichen“, sagt die eine. Ein Zeichen für was? „Wir merken an solchen Besuchen, dass die Welt hinter uns steht“, sagt sie. Sie sucht einen Moment nach einem passenden Wort für ihr Gefühl. „Stolz klingt irgendwie nicht richtig. Aber wir fühlen uns geehrt“, sagt sie.

Biden in Kiew: „Wichtiges Zeichen der Unterstützung“
20.02.2023, Ukraine, Kiew: Joe Biden (l), Präsident der USA, geht neben Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, an der Kathedrale mit der goldenen Kuppel von St. Michael. Biden ist zu einem Besuch in der Ukraine eingetroffen. Vor einer geplanten Reise nach Polen kam der Demokrat 20.02.2023 in die Hauptstadt Kiew - seine erste Visite in dem Land seit Beginn des russischen Angriffskriegs vor fast genau einem Jahr. Aus Sicherheitsgründen war der Besuch nicht angekündigt worden. Foto: Evan Vucci/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

In einer Rede lobte Biden den Mut der Ukraine beim Widerstand gegen den russischen Angriff.

Hinter ihr den Hügel hinauf in Richtung Regierungs­viertel ist eine Fußgängerbrücke mit Fahnen geschmückt. Die Flaggen der EU, der USA, Japans, Kanadas und anderer westlicher Demokratien hängen für jeden sichtbar herab, der den Maidanplatz überquert. Den Ukrainern bedeutet die Unterstützung aus dem Ausland viel. Wer auf Englisch etwas zu essen oder ein Bier bestellt, erntet oft ein besonders freundliches Lächeln. Ausländer geben den Menschen das Gefühl, nicht vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein. Die Reise­beschränkungen für Russen werden dagegen nicht selten sarkastisch kommentiert.

Die Ukrainer wünschen sich Lang­strecken­raketen, doch die USA zögern

Noch rätseln viele, was Joe Biden für die Ukrainer im Gepäck hatte. Die Rede ist von Munition, Panzerabwehr und Radarsystemen im Wert von 500 Millionen Euro. Die Ukraine bittet aber um andere Gaben aus Washington. Sie wünscht die Lieferung von F‑16-Kampf­flug­zeugen und Lang­strecken­raketen vom Typ Atacams. Sie können bis zu 300 Kilometer entfernte Ziele treffen. Mit Atacams ausgerüstet könnte die Ukraine russische Nach­schub­routen weit hinter der Front ausschalten und auch den Süden der 2014 von Russland annektierten Krim angreifen. Dieselben Möglichkeiten böten auch die F‑16-Kampfflugzeuge.

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Die USA haben der Ukraine zuletzt Raketen mit einer Reichweite von bis zu 150 Kilometern geliefert. Die Amerikaner zögerten zu Beginn des Krieges überhaupt mit der Lieferung von Lang­strecken­raketen. Das Argument ist bis heute gleich geblieben. Washington fürchtet, mit der Bereitstellung immer schwerer Waffen irgendwann eine rote Linie Moskaus zu überschreiten und direkt Kriegspartei zu werden. Die Ukraine wirbt dagegen für die Lieferungen. Da die Ausbildung an F‑16-Maschinen allerdings Monate in Anspruch nimmt, gehen auch Experten davon aus, dass eine Lieferung für die Abwehr der angekündigten Frühjahrs­offensive der Russen zu spät käme.

Neue Munition wird dringend gebraucht: Der Mangel setzt der ukrainischen Armee zu

Die Freude über neue Munition dürfte bei Präsident Selenskyj dennoch groß sein. Der Mangel an Geschossen setzt der ukrainischen Armee zu. Die Bestände der europäischen Partner neigen sich bereits der Erschöpfung zu. Die Produktion in Europa kommt kaum noch nach. Ähnlich bewerten das Stimmen aus der ukrainischen Zivil­gesellschaft. Der Menschen­rechts­anwalt Oleg Veremyenko aus Kiew bezeichnet die US‑Unterstützung als unbezahlbar. „Die USA geben uns unschätzbare Hilfe bei der Verteidigung gegen die russische Aggression“, sagt er.

„Das Gewissen Michjejews. Wir erinnern uns. Wir trauern.“ Geändertes Wandbild Roman Michjejews am 10. Februar 2023.

Wenn Schmerz zum Verrat wird

Der russische Oblast Samara hat schon beim Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion eine besonders große Kriegslast getragen. Seit einem Jahr befindet sich Russland nun in einem Feldzug gegen die Ukraine – und wieder zahlt Samara einen hohen Blutzoll. Ist es das ebenso wert? Vor Ort darf diese Frage trotz allen Leids nur leise gestellt werden, wie unser Russland-Korrespondent Paul Katzenberger bei einem Besuch der Region zur Kenntnis nehmen musste.

Die Englischdozentin Nadiya Govorun arbeitet ehrenamtlich für den Zivilschutz in Kiew. Sie blickt bereits in die Zukunft. „Im kommenden Jahr sind Präsidentschafts­wahlen in den USA. Und ich glaube, von den Demokraten können wir uns mehr erwarten. Ich vermute, sie wollen ihren Wählen zeigen, dass die finanzielle Hilfe für die Ukraine auch wirklich für die Verteidigung eingesetzt wird“, sagt sie.

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Govorun spielt auf Zweifel im Westen angesichts der endemischen Korruption in der Ukraine an. „Ich finde es gut, wenn die amerikanische Regierung der unseren genau auf die Finger schaut“, sagt sie.

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