„Machen Sie weiter, Sie sind mein Held“
Der Holocaust-Überlebende Gidon Lev ist auf Tiktok aktiv.
© Quelle: Privat
Berlin. Ein Videomeeting mit Gidon Lev und seiner Lebensgefährtin Julie Gray ist nicht einfach zu verabreden. Der 87-Jährige hat eine Menge Termine: Bildungsorganisationen wollen mit ihm reden, Journalisten sowieso, dann gilt es noch, Absprachen wegen eines Prag-Drehs für einen Dokumentarfilm zu treffen.
Dann sitzt er mir doch am Bildschirm gegenüber, winkt in die Kamera und sagt lächelnd auf Deutsch: „Hallo, wie geht es Dir?“
Vor 80 Jahren bangte Gidon Lev im Konzentrationslager Theresienstadt, auf der Hälfte der Strecke zwischen Prag und Dresden gelegen, um sein Leben.
Seine Familie und er waren hier seit 1942 interniert. Sie stammen aus Karlsbad, dem heutigen Karlovy Vary in Tschechien. Sein Vater und sein Großvater waren zuvor zwangsrekrutiert worden, um das Lager aufzubauen.
10.500 Kinder im KZ
In das KZ wurden im Laufe seiner Existenz etwa 140.000 Juden eingesperrt oder zu Zwangsarbeit eingesetzt. Fast 90.000 Menschen wurden von dort in die Vernichtungslager im Osten, wie Auschwitz oder Treblinka, deportiert, um dort ermordet zu werden. Historiker und Historikerinnen gehen davon aus, dass von den mehr als 10.500 Kindern unter 15 Jahren, die zunächst nach Theresienstadt deportiert worden waren, nur etwa 2000 überlebten.
Einer von ihnen war Gidon Lev, der bei der Befreiung knapp zehn Jahre alt war.
Sein Vater wurde nach Auschwitz gebracht, von dort kam er ins KZ Buchenwald bei Weimar. Hier verliert sich seine Spur. Sein über alles geliebter Großvater starb in Theresienstadt. Seine Urgroßmutter sagte vor ihrem Transport nach Treblinka: „Macht euch keine Sorgen, eine alte Frau von 82 Jahren kann doch nicht mehr viel arbeiten. Was soll mir passieren?“, erzählt Gidon Lev.
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Der Holocaust-Überlebende Gidon Lev zeigt ein Foto seiner Eltern. Die Mutter überlebte das KZ Theresienstadt, der Vater kam vermutlich auf einem Todesmarsch um.
© Quelle: RND
Er stockt und hält ein Foto in die Kamera, das Eltern, Großeltern und Urgroßeltern 1934 beim Spaziergang in Karlsbad zeigt. „Da war ich schon dabei, im Bauch meiner Mutter.“ Damals hätten zu Hause alle gedacht, was da im benachbarten Deutschland abging, das hätte nichts mit ihnen zu tun. „Sie haben sich getäuscht.“
„Das haben wir nicht gewusst“
Auch beim Abschied von der Urgroßmutter gingen viele noch davon aus, dass das Leben in den Lagern im Osten hart ist und es wenig zu essen gibt. „Dass die Menschen nur dorthin gebracht werden, um sie zu töten, das haben wir nicht gewusst.“ Neben seinem Vater verliert Lev insgesamt 26 Verwandte im Holocaust.
„Ich habe mein Leben meiner Mutter zu verdanken“, berichtet er. „Sie hat so hart geschuftet, dass die Aufseher immer zufrieden waren und sie nicht auf die Transportlisten nach Osten setzten.“ Dies wäre auch das Todesurteil für ihren Jungen gewesen.
Nach dem Krieg warteten er und seine Mutter auf zurückkehrende Verwandte. „Doch es kam niemand mehr, zwei Jahre lang nicht.“ Dann fand sie eine Großtante, die in Brooklyn, New York, lebte – und holte die Überlebenden in die USA.
Wie seine Mutter und er die Kraft fanden, trotz der Verluste weiterzumachen, das kann Gidon Lev schwer beschreiben. Sie gingen 1959, er war 24, nach Israel. „Ich wollte einfach leben und habe dabei mal den einen, mal den anderen Weg genommen. Es ging mir um einen Neustart und ums Überleben.“
Buch erscheint 2020
Vor zehn Jahren starb seine zweite Ehefrau an Lungenkrebs. Das nahm ihn sehr mit. „Ich hatte zweimal Krebs“, erzählt er, „und besiegte ihn zweimal. Warum war ihr das nicht vergönnt?“
Freunde rieten dem rastlosen Gidon, sein Leben aufzuschreiben. Schließlich hätte er doch so viel erlebt. Eigene Versuche scheiterten jedoch. So suchte er eine Person, die es für ihn aufschreibt. Dabei lernte er vor wenigen Jahren die US-Amerikanerin Julie Gray kennen.
Die mittlerweile 58-jährige Autorin winkte nach dem ersten Gespräch in Tel Aviv ab. „Der Holocaust – das war mir als Thema zu groß“, erinnert sie sich. Doch Lev blieb mit dem ihm eigenen Charme hartnäckig und sie willigte nach dem zweiten Treffen ein.
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Julie Gray schrieb ein Buch über das Leben von Gidon Lev.
© Quelle: Privat
2020 erschien „The True Adventures of Gidon Lev“ in englischer Sprache. In der Pandemie waren auch in Israel Lesereisen unmöglich. Jemand riet ihr die Social-Media-Plattformen zu nutzen, um Werbung für das Buch zu machen. So landeten Gidon und Julie auch bei Tiktok – eine Plattform, die nicht gerade für leise Töne steht.
Zuspruch und Trolle
Die Autorin und ihr Held erhielten viel Zuspruch im Netz. Aber es meldeten sich auch schnell die Trolle und Hasser. Gray sagt, ihr war bewusst, dass Tiktok nicht das subtilste Medium sei. Sie hätte jedoch nie gedacht, dass sie sich so viel Judenhass ansehen müsse.
„Erst neulich machte einer mit einem Tiktok von Gidon ein Duett – er zeigte sich, wie er zum Ofen in seiner Küche ging und ihn auf Hochtouren drehte“, erzählt sie. „Es ist ein dummer Witz, aber die beiläufige Grausamkeit davon hat mich umgehauen. Er hat das auf die Seite eines Holocaust-Überlebenden gesetzt, weißt du?“
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Gidon nimmt diese Herausforderung an. Nahezu täglich antwortet oder kommentiert er auf Tiktok, er tanzt gegen die Holocaust-Leugner und ‑Leugnerinnen an oder persifliert Trolle, die Judenwitze reißen. Ihm folgen inzwischen mehr als 400.000 Accounts und seine Statistik weist mehr als sieben Millionen Likes auf. Gidon macht ernst: „Wir können uns nicht hinsetzen und über die Hassverbreiter, Antisemiten oder Holocaustleugner klagen. Wir müssen dagegen kämpfen. Das werde ich tun, solange ich bin.“
Holocaust-Bildung auf TikTok
Julie Gray hat sich deshalb entschlossen weiterzumachen. „Ich setze mich dafür ein, weiterhin Holocaust-Bildung auf Tiktok zu unterrichten. Ihr ginge es vor allem um junge Leute, die häufig viel zu wenig über den Holocaust wüssten. Das liege auch am Versagen vorheriger Generationen. „Der Holocaust wurde als abstrakter, aber drohender und brutaler Aspekt eines zermürbenden Weltkriegs verstanden, der Europa in Trümmer legte und die Weltordnung veränderte.“
Die US-Amerikanerin ist davon überzeugt, dass junge Menschen die vor ihnen liegenden Herausforderungen meistern werden, weil sie „zu den kreativsten, intelligentesten, technikaffinsten und neugierigsten Bürgern“ gehörten, die die Welt je gesehen hätte. „Wir müssen ihre Herausforderungen erkennen und uns ihre Gaben und neuen Erkenntnisse zu eigen machen, um sinnvolle, generationenübergreifende Partnerschaften in Bezug auf soziale Medien und das Gedenken an den Holocaust zu schaffen“, ist Gray überzeugt.
Die Aufgabe der Älteren sei es, zu erklären, was für uns alle auf dem Spiel stehe. Sie sollten jungen Menschen die Möglichkeit geben, sich selbst zu äußern und ihre Beziehung zum Holocaust auf neue und sinnvolle Weise zu gestalten, so Gray. „Sie sollten nicht gegängelt oder beschämt werden, weil sie diese wichtige Aufgabe anders angehen.“
Dokumentarfilm entsteht
Und so macht Gidon Lev trotz vieler Tiefschläge weiter. „Die Schlimmen, das sind höchstens 15 Prozent“, schätzt er. „Schlechte Leute gibt es wohl immer.“
Aber vor wenigen Tagen erst, erzählt er strahlend, hätte ihn in Tel Aviv auf der Straße ein junges Mädchen angesprochen. „‚Sind Sie nicht Gidon Lev?‘, fragte sie mich. Als ich das bejahte, sagte sie zu mir: ‚Machen Sie weiter, Sie sind mein Held‘.“
Levs Geschichte hat jedoch nicht allein in Israel Interesse geweckt. Yaniv Rokah, Regisseur des preisgekrönten Dokumentarfilms „Queen Mimi“ über eine 80-jährige Obdachlose, die 18 Jahre lang in einem Waschsalon im kalifornischen Santa Monica lebte, produziert derzeit eine Dokumentation über Gidons Leben.