Bloß raus aus Tokio: Warum es Geld gibt, wenn Bewohner aufs Land ziehen

Im Gedränge: In der Metropolregion Tokio leben 43 Millionen Menschen.

Im Gedränge: In der Metropolregion Tokio leben 37 Millionen Menschen.

Tokio. In vielen Städten der Welt gehört es zur Standortpolitik, die eigenen Vorzüge zu betonen, um damit Menschen anzulocken. So beschenkt die deutsche Hauptstadt Berlin zuziehende Studierende seit Jahrzehnten mit einem Begrüßungsgeld, derzeit in Höhe von 50 Euro. Die Handelsmetropole Hongkong wirbt mit sehr niedrigen Steuern und reichlich Unterstützungen bei Unternehmensgründungen. Und Wien versucht sich als Digitalisierungshauptstadt zu profilieren, also als attraktive Destination für moderne Betriebe und junge Menschen.

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Tokio ist da etwas anders. Seit einigen Jahren schafft die japanische Hauptstadt nicht etwa Anreize, damit sich Leute und Unternehmen hier ansiedeln, sondern im Gegenteil – damit sie den Ort verlassen. Seit 2019 zahlt die Regierung Familien Prämien, die sich anderswo niederlassen als im dicht bevölkerten Großraum Tokio, der mit rund 37 Millionen Menschen größten Metropolregion der Welt. Und jetzt wurde dieser Rausschmeißer noch etwas deutlicher formuliert.

Das heißt: Die Prämie für den Wegzug ist spürbar erhöht worden. Mit April dieses Jahres, wenn in Japan das neue Fiskaljahr beginnt, erhält jede Familie nicht mehr bloß eine Million Yen (rund 7250 Euro) für die Umzugskosten, wenn ihre Mitglieder in die Peripherie oder eine ganz andere Region umsiedeln und dort mindestens fünf Jahre arbeiten. Fortan erhält jede Familie pro Kind noch eine Million Yen zusätzlich. Das entspricht mehr als einer Verdreifachung des bisherigen Angebots von 300.000 Yen pro Kind. Auch Betrieben, die umsiedeln, macht man Steuerangebote.

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Die japanische Regierung, die in dieser Angelegenheit mit diversen Lokalregierungen kooperiert, macht damit deutlich: Den Versuch, Menschen aus der Hauptstadt zu schaffen, meint sie ernst. Während andere Regionen Japans teils seit Jahrzehnten schrumpfen, sieht es in und um Tokio, wo mehr als ein Viertel aller Menschen in Japan leben, anders aus. Der Ballungsraum hat sich in den vergangenen 70 Jahren verdreifacht. Allein die Wirtschaftsleistung innerhalb der Stadtgrenze – in der „nur“ rund 13 Millionen leben – beläuft sich auf ein Fünftel des japanischen Bruttoinlandsprodukts.

Behörden sind in Sorge vor einem Erdbeben

Tokios „negative Standortpolitik“ – also die Bemühungen um einen Wegzug von Menschen und Unternehmen zugunsten anderer Gebiete – ist wohl nicht nur ökonomisch motiviert. Sie geschieht in einer Zeit, in der Geologen schon seit Längerem ein großes Erdbeben rund um Tokio befürchten. Zwar sind in der Hauptstadtregion viele Gebäude äußerst erdbebensicher gebaut. Aber ein Beben wie jenes, das sich im Jahr 2011 vor der Küste von Fukushima ereignete und einen Tsunami, einen Atom-Super-GAU sowie rund 20.000 Tote zur Folge hatte, würde auch in Tokio große Schäden anrichten.

Erst Anfang 2021 schätzte die Zentrale für Erbebenforschungsförderung die Wahrscheinlichkeit, dass in den folgenden 30 Jahren ein größeres Beben die Hauptstadtregion erschüttert, auf 47 Prozent. Nirgendwo sonst in Japan ist das Risiko dafür demnach größer. Als die Regierung 2016 eine neue Erdbebenstrategie vorstellte, ging sie bei einem Beben der Stärke sieben in Tokio – was deutlich geringer wäre als jenes vor Fuku­shima 2011 – von bis zu 23.000 Todesfällen aus. Acht Millionen Menschen könnten ihr Zuhause verlieren, 410.000 Gebäudestrukturen zerstört werden.

In Schutt und Asche: 1923 zerstörte das Kanto-Erdbeben weite Teile Tokios.

In Schutt und Asche: 1923 zerstörte das Kanto-Erdbeben weite Teile Tokios.

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Sicher: Derartige Prognosen lassen sich kaum exakt stellen, schon weil es für möglichst genaue Vorhersagen an Fallzahlen untersuchter Erdbeben mangelt. In Japan aber ist das Risiko eines großen Bebens nicht nur wegen geologischer Schätzungen äußerst präsent. Im Inselland, das oberhalb mehrerer tektonischen Platten liegt, prägen solche Katastrophen auch die nationale Geschichte.

Im Jahr 1923 etwa, als Großteile Tokios durch das Kanto-Erdbeben zerstört wurden, begann inmitten des Chaos eine Hetzjagd auf die koreanische Bevölkerung, die Demagogen als Unruhestifter verunglimpft hatten. Der aufstrebende Faschismus in Japan wurde begünstigt. 1995, als das westjapanische Kobe ein schweres Erdbeben erlitt, starben dort rund 6000 Menschen, 45.000 verloren ihr Zuhause. Das Tohoku-Erdbeben vor Fukushima führte zunächst zum Ende der im Land wichtigen Atomenergie, die allerdings seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine ein deutliches Revival erlebt.

Die Bemühungen, nun möglichst viele Menschen aus Tokio zu schaffen, sind bisher allerdings kaum erfolgreich gewesen. Seit 2019 haben nur etwa 2300 Menschen die Hauptstadt im Rahmen dieses Programms verlassen. Geschrumpft ist die Metropole in jüngster Zeit dennoch etwas: Ende Oktober 2022 meldete die Marktanalysefirma Teikoku Databank, dass in dem Jahr bis zu dem Zeitpunkt 168 Unternehmen den Großraum Tokio zugunsten anderer Regionen verlassen hatten. Das bedeutete im zweiten Jahr in Folge einen Nettoabfluss von Betrieben.

Auch die Bevölkerung ist zuletzt leicht gesunken. Dies hatte zwar vor allem mit sinkenden Geburtenzahlen zu tun, was in ganz Japan ein seit Jahren zu beobachtendes Phänomen ist. Mit der nun deutlich erhöhten Wegzugprämie soll die Bevölkerung bald aber weiter fallen. Immerhin hat sich inmitten der Pandemie ein Eindruck unter Tokioterinnen und Tokiotern festgesetzt: Die Hauptstadtregion hat nicht nur ein Beben zu befürchten, sie ist zudem teurer als jeder andere Ort Japans. Und auch in Japan nehmen die Möglichkeiten, im Homeoffice zu arbeiten, seit Beginn der Corona-Pandemie zu.

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