Gericht in Neuseeland bewertet Stealthing erstmals als Vergewaltigung
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Wird das Kondom bei Sex heimlich abgezogen, nennt sich das Stealthing.
© Quelle: Friso Gentsch/dpa/dpa-tmn
Wellington. Ein Gericht in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington hat einen Präzedenzfall für das Land geschaffen. Es hat diese Woche einen Mann wegen Vergewaltigung verurteilt, nachdem dieser beim Sex ohne Zustimmung der Frau das Kondom entfernt hat. Ein Strafmaß muss noch festgelegt werden.
Zieht ein Partner heimlich und ohne Zustimmung des oder der anderen beim Sex das Kondom ab, so nennt sich dieser Vorfall Stealthing. Im Englischen bezeichnet das Wort eine Heimlichtuerei oder eine List, also einen Vorgang, bei dem man etwas verbirgt oder den anderen bewusst täuscht. In diesem Fall wird der Partner beim zunächst einvernehmlichen Geschlechtsverkehr hinters Licht geführt. Das Kondom wird entfernt, ohne dass der oder die andere dem zugestimmt hat.
Stealthing juristisch noch nicht häufig behandelt
Das Thema ist beziehungstechnisch kein Neues – es gibt sogar Beiträge in Internetforen, in denen Männer damit prahlen, beim Sex das Kondom abgenommen zu haben. Juristisch ist es dagegen noch nicht häufig behandelt worden. Selbst in den Medien hat das Thema bisher verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit erhalten. Erst seitdem die BBC-Serie „I May Destroy You“ Stealthing thematisiert hat – eine der Darstellerinnen wurde Opfer davon –, ist vielen bewusst geworden, dass das Phänomen ein Problem darstellt.
Samantha Keene von der Victoria Universität in Wellington sagte der neuseeländischen Tageszeitung „NZ Herald“, dass das Urteil des Gerichts in Wellington nun anerkenne, dass die „Zustimmung zum Sex nicht mehr bestehen“ bleibe, sobald ein Kondom abgezogen werde. Denn sobald ein Kondom entfernt wird, sind die beteiligten Personen Gesundheitsrisiken wie sexuell übertragbaren Infektionen und HIV ausgesetzt. Bei heterosexuellen Paaren kommen zudem unbeabsichtigte Schwangerschaften hinzu. Wegen dieser ernsthaften Risiken begrüßte die Sozialwissenschaftlerin, die in ihrer Arbeit über Gewalt gegen Frauen forscht, das Urteil.
Missbrauch durch Stealthing ist vielen nicht bewusst
Laut Keene sei es bisher jedoch weder Opfern noch Tätern wirklich bewusst gewesen, dass Stealthing als eine Form sexueller Gewalt angesehen werden könne. Das Urteil in Wellington würde nun erstmals verdeutlichen, wie ernsthaft so ein Verhalten sei. Tatsächlich hatte ein Opfer 2017 in einem Artikel für die britische Zeitung „The Guardian“ geschrieben: „Mir war nicht klar gewesen, dass ich sexuell missbraucht worden war, bis eine Krankenschwester, die mir die Pille danach gab, es mir erklärte“, schrieb Sophie Maullin.
Sie erklärte weiter, sie habe sich nicht nur verletzt gefühlt, weil sie unbewusst ungeschützten Sex gehabt habe und damit potenziell sexuell übertragbaren Krankheiten und einer Schwangerschaft ausgesetzt gewesen sei. Vielmehr sei es der Missbrauch ihrer persönlichen Grenzen und der „gefühlte Anspruch“ des Täters auf ihren Körper gewesen, der ihr Schmerz verursacht habe.
Auch Deutschland und Schweiz beschäftigen sich mit Stealthing
Auch in Deutschland und der Schweiz haben sich die Gerichte in den vergangenen Monaten mit dem Thema beschäftigt, das bisher weitgehend juristisches Neuland war. In beiden Ländern waren sich die Gerichte jedoch uneins: Ende März kam das schleswig-holsteinische Oberlandesgericht (OLG) beispielsweise zu dem Entschluss, dass es strafbar ist, ein Kondom während des Geschlechtsverkehrs heimlich abzuziehen. Mit der Entscheidung hob es einen Freispruch des Kieler Amtsgerichts wieder auf. Zuvor hatte das Kammergericht (KG) in Berlin in einem Stealthing-Vorfall entschieden, dass das heimliche Abstreifen eines Kondoms den Tatbestand des sexuellen Übergriffs erfüllen könne.
In der Schweiz beschäftigte das Thema die Justiz ebenfalls – und auch hier waren die Richter nicht immer einer Meinung. 2019 beispielsweise bezeichnete ein Gericht Stealthing zwar als grundsätzlich strafwürdig und moralisch verwerflich. Da sich das Thema jedoch in einer Gesetzeslücke bewege, wertete das Gericht es weder als sexuellen Übergriff noch als Vergewaltigung und sprach den angeklagten Mann frei. Zuvor hatte ein anderes Gericht einen ähnlichen Fall, bei dem es ebenfalls zu Sex ohne Kondom und ohne Absprache kam, dagegen als Schändung eingestuft.