Japan bleibt vorsichtig: Warum die meisten Bewohner weiterhin Masken tragen
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Sorge vor Corona: Auch jetzt tragen viele in Japan noch eine Maske.
© Quelle: IMAGO/Kyodo News
Tokio. Wer die Menschen sieht, die an der Kreuzung warten, könnte auf den ersten Blick denken: Die Pandemie bestimmt hier immer noch das Alltagsleben. Von den rund 20 Personen, die vor dem Ausgang der U‑Bahn-Station Ningyocho im östlichen Stadtzentrum Tokios auf das grüne Signal warten, tragen deutlich mehr als die Hälfte einen Mund-Nasen-Schutz. Und dies, obwohl die Temperaturen in der japanischen Hauptstadt dieser Tage um die 20 Grad liegen. Sicherheit, so scheint es, muss weiterhin sein.
Dabei ist seit Kurzem die Corona-Pandemie auch in Japan offiziell Vergangenheit. Schon Mitte März appellierte die Regierung nicht mehr an die Menschen, im öffentlichen Raum bitte eine Gesichtsmaske zu tragen. Jüngst veröffentlichte die Regierung ihren letzten Bericht mit den Zahlen der Corona-Toten: Am Vortag waren in dem ostasiatischen Land mit seinen 125 Millionen Einwohnern noch 25 mit Covid‑19 infizierte Menschen gestorben. Fortan gilt die Krankheit als saisonale Grippe.
Umso erstaunlicher ist, dass in Japan das Maskentragen keineswegs aus der Mode gekommen ist. Mitte April, also einen Monat nach dem Ende des Maskenappells, berichtete die Tageszeitung „Nikkei“ von einer Umfrage, laut der noch 90 Prozent der Menschen aus Vorsicht ihr Gesicht bedeckten. Jetzt, da mit dem offiziellen Pandemieende der nächste Schritt zur Rückkehr ins präpandemische Leben gemacht ist, sind die Masken noch immer allgegenwärtig.
„Also, ich trage keine mehr“, sagt der Betreiber eines kleinen Restaurants in Komazawa, einem Stadtteil im Westen des Tokioter Zentrums. „Aber einige meiner Freunde wollen lieber nichts riskieren.“ Und was ja wahr sei: „Es stört auch nicht weiter, eine Maske aufzusetzen. Und wenn es jemandem ein besseres Gefühl gibt – warum nicht?“ Auch in seinem Restaurant tragen viele Besucherinnen und Besucher eine Maske, wenn sie nicht gerade essen oder trinken.
Die Menschen kooperieren gern
Das Verhältnis der Menschen in Japan zu Gesichtsmasken war schon vor der Pandemie eines ohne viel Reibung. Anders als in westlichen Ländern, wo die Einführung einer Maskenpflicht viele auf die Barrikaden brachte, musste in Japan gar nicht erst eine Pflicht eingeführt werden. Die Regierung forderte die Bürger und Bürgerinnen nur auf, sich und andere doch bitte in Form einer Gesichtsbedeckung zu schützen. Die Menschen kooperierten gern. In den Hochzeiten der Pandemie zogen auch Joggerinnen und Jogger im Park eine Maske auf – selbst wenn die durch den Schweiß nass wurde und so schnell ihre Wirkung verlor.
Ans Maskentragen ist man in dem ostasiatischen Land seit mehr als einem Jahrhundert gewöhnt. Während der Spanischen Grippe, die sich inmitten des Ersten Weltkriegs rund um den Globus ausbreitete, hatte die Regierung erstmals mit der Aufforderung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes reagiert. Danach ging diese Notfallmaßnahme ins allgemeine Leben über: Zumindest eine OP‑Maske setzt seither auf, wer eine Erkältung hat und sich dennoch unter Leute begibt. Man schützt damit nicht in erster Linie sich selbst, sondern die Mitmenschen.
Infektions- und Todeszahlen blieben gering
In der Pandemie gehörte dies wohl zum japanischen Erfolgsrezept. Das Land hatte – ähnlich wie europäische Länder – wegen umfassender Datenschutzregeln nicht die Möglichkeit, per Smartphone die Bewegungen von Individuen zu verfolgen. Auch ein Lockdown, der den Menschen den Gang vor die Tür der eigenen Wohnung verboten hätte, blieb gesetzlich schwierig. Stattdessen arbeitete Japan mit umfassenden Aufforderungen an die Bevölkerung. Die Infektions- und Todeszahlen blieben weit geringer als jene in anderen liberalen Gesellschaften wie den USA oder in Europa.
Schon die offizielle Aufforderung zur Kooperation genügt. Und so lässt sich auch erklären, warum die Masken zum Ende der Pandemie nicht kollektiv abgelegt werden. „Solange andere Menschen Sorgen haben, möchte ich sie lieber weiterhin tragen“, sagt etwa Yuri Satou, eine Frau mittleren Alters, die in einem größeren Park in Komazawa ihre Maske trägt, obwohl sie selbst keine Erkältung hat und zudem dreimal geimpft ist. „Man kann sagen, dass ich sie jetzt für all diejenigen trage, denen Corona noch Unbehagen bereitet.“
Viele haben den Wunsch, soziale Erwartungen zu erfüllen,
In der Sozialwissenschaft wird so eine Situation auch als „collective action problem“ bezeichnet, also ein Problem des kollektiven Handelns: Die Gesellschaft könnte eine andere, womöglich zu bevorzugende Situation erreichen, wenn nur genügend Menschen entsprechend handelten. Schließlich tragen die Menschen auch in Japan, wenn möglich, lieber keine Maske. Aber nicht zuletzt der Wunsch, eine manchmal abstrakte soziale Erwartungshaltung zu erfüllen, hält viele davon ab, die Masken fallen zu lassen.
Allerdings könnte sich das soziale Gleichgewicht gerade ändern. Die Zeitung „Asahi Shimbun“ hat Anfang Mai eine Umfrage unter 1000 Menschen veröffentlicht, nach der nur noch rund 40 Prozent eine Maske trugen. Repräsentativ ist der Wert jedoch nicht. Und im internationalen Vergleich wären auch vier von zehn Menschen, die freiwillig eine Maske aufsetzen, noch ein sehr hoher Wert.