Blutige Ära geht zu Ende

„Die Cosa Nostra befindet sich in einer tiefen Krise“

Matteo Messina Denaro (M.), Chef der sizilianischen Cosa Nostra, nach seiner Festnahme.

Matteo Messina Denaro (M.), Chef der sizilianischen Cosa Nostra, nach seiner Festnahme.

Campobello di Mazara ist eine verschlafene, unscheinbare Kleinstadt im Südwesten Siziliens: 11.000 Einwohnerinnen und Einwohner, staubige Straßen voller Schlaglöcher, einige Bars, ein ärmlich wirkendes Gemeindehaus, vier Kirchen. Wenn überhaupt, dann war der Ort bisher nur bekannt für seinen Steinbruch, wo die antiken Griechen das Baumaterial für die Säulen ihrer majestätischen Tempel im nahen Selinunt abbauten – die ehemalige griechische Stadt mit ihrer Akropolis ist eine der bedeutendsten archäologischen Ausgrabungsstätten Italiens und die touristische Hauptattraktion der Region, die sonst vom Weinbau dominiert wird.

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Doch nun herrscht im beschaulichen Campobello di Mazara plötzlich höchste Betriebsamkeit: Unzählige Ermittler durchsuchen Wohnungen und Verstecke, mehrere TV-Teams berichten über jeden Schritt der Staatsanwälte. In dem Städtchen hatte der meistgesuchte und gefährlichste Mafiaboss Italiens, Matteo Messina Denaro, die letzten Jahre seiner 30-jährigen Flucht verbracht, bevor er am vergangenen Montag in einem Krankenhaus von Palermo verhaftet wurde. In Campobello di Mazara, das nur fünf Kilometer von Messina Denaros Geburtsort Castelvetrano in der Provinz Trapani entfernt liegt, führte der Mafioso ein mehr oder weniger normales Leben, völlig ungestört: Er ging – wenn auch unter falschem Namen – einkaufen, erledigte Bankgeschäfte, grüßte die Dorfpolizisten und schwatzte mit den Nachbarn. „Er war immer nett und höflich“, sagen die Leute in Campobello di Mazara.

Wie der Superpate so lange untertauchen konnte

„Die Verhaftung von Messina Denaro ist ein wichtiger, ein großer Erfolg für den italienischen Rechtsstaat: Immerhin handelt es sich bei ihm um den letzten bedeutenden Boss der Cosa Nostra“, betont Francesco Forgione. Der ehemalige Präsident der parlamentarischen Anti-Mafia-Kommission in Rom gilt als einer der versiertesten Mafia-Experten des Landes und hat mehrere Bücher über das organisierte Verbrechen in Italien geschrieben. Das Ende der langen Flucht des Superpaten werde in der Cosa Nostra große Verunsicherung und möglicherweise ein Kampf um die Nachfolge auslösen.

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Ermittler untersuchen ein Versteck von Mafia-Boss Matteo Messina Denaro in Trapani auf Sizilien.

Ermittler untersuchen ein Versteck von Mafia-Boss Matteo Messina Denaro in Trapani auf Sizilien.

„Gleichzeitig macht es natürlich sprachlos, dass Messina Denaro jahrelang in seiner engsten Heimat ein normales Leben führen konnte, ohne dass die Hundertschaften von Ermittlern, die auf ihn angesetzt waren, etwas davon mitbekamen“, betont Forgione. Die Erklärung dafür liefert er gleich selber: „Er konnte sich auf die ‚omertà', die mafiöse Verschwiegenheit, und auf ein verlässliches Sicherheitsnetz verlassen, das ihm die ‚borghesia mafiosa‘ der Stadt aufgespannt hat.“ Diese „mafiöse Bourgeoisie“ bestehe aus Freimaurern, Unternehmern, Freiberuflern und Lokalpolitikern, die nicht Mitglied der Cosa Nostra seien, aber mit ihr gemeinsame Sache machten. Allein in der Provinz Trapani gebe es über ein Dutzend Freimaurerlogen, in der sich die heimlichen Unterstützer der Mafia regelmäßig träfen.

Allerdings, betont Forgione, habe sich in Campobello di Mazara und in Castelvetrano am Tag der Verhaftung der Superpaten noch etwas anderes ereignet, unspektakulär und dennoch aufsehenerregend: „Hunderte von Bürgerinnen und Bürger, vor allem junge, sind auf die Straße geströmt, um die Festnahme des Bosses zu feiern“, betont der Mafia-Experte. Sie hätten keine Angst mehr vor den Clans. Nächste Woche ist in den beiden benachbarten Kleinstädten eine offizielle Feier geplant: Am 25. Januar werden die Einwohnerinnen und Einwohner losmarschieren und sich auf halbem Weg zwischen den beiden Orten treffen, kündigt der Bürgermeister von Campobello di Mazara, Giuseppe Castiglione, an: „Unter den Leuten herrscht sehr viel mehr Freude als Angst, viele meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger sagen mir in diesen Tagen nur ein Wort: Endlich!“

Weitreichende Gesetze zum Kampf gegen die Mafia

In der Tat ist in Italien viel passiert, seit die beiden Superbosse Toto Riina und Bernardo Provenzano und ihr verlässlichster Killer, Matteo Messina Denaro, im Jahr 1992 die beiden Anti-Mafia-Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino ermordeten und den Staat mit Bombenanschlägen herausforderten. „Wir haben Gesetze und Instrumente entwickelt, über die sonst kaum ein anderer Staat bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens verfügt“, betont Forgione. Er erinnert an den die Einführung des Artikels 41–bis, der lebenslange Isolationshaft für verurteilte Bosse vorsieht – ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung. Eine weitere Maßnahme ist das flächendeckende Anzapfen von Telefonen – jedes Jahr werden in Italien Zehntausende von Anschlüssen abgehört. Der Tatbestand der „Begünstigung der Mafia“ erlaubt es schließlich den Behörden, auch Personen zu verhaften und jahrelang einzusperren, denen keine Straftat nachgewiesen werden kann – es reicht, dass sie die den Clans in irgend einer Form geholfen haben.

Ein von der italienischen Polizei zur Verfügung gestelltes Foto zeigt Matteo Messina Denaro, Oberster Mafiaboss von Sizilien, kurz nach seiner Verhaftung.

Ein von der italienischen Polizei zur Verfügung gestelltes Foto zeigt Matteo Messina Denaro, Oberster Mafiaboss von Sizilien, kurz nach seiner Verhaftung.

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Die im Lauf der Jahre entwickelten Anti-Mafia-Instrumente sind rechtsstaatlich nicht ganz unbedenklich – aber effizient. Sie erlauben es beispielsweise dem Staatsanwalt von Catanzaro, Nicola Gratteri, jedes Jahr Hunderte von mutmaßlichen Mitgliedern der kalabrischen ’Ndrangheta hinter Schloss und Riegel zu bringen. In Lamezia Terme in Kalabrien findet gerade ein Prozess der Superlative mit über vierhundert Angeklagten statt. 300 von ihnen wurden im Dezember 2019 bei einer einzigen Großrazzia verhaftet; an der Aktion waren 2500 Mann der Carabinieri-Spezialeinheiten ROS – darunter auch Fallschirmjäger – beteiligt. Das sind Dimensionen der staatlichen Repression, die kein anderes Land der EU kennt.

Die Justiz trifft die Clans auch dort, wo es ihnen am meisten weh tut: bei ihrem Vermögen. 1996 wurde ein Gesetz erlassen, das es den Behörden erlaubt, private Vermögen und Ländereien von Mafiosi zu konfiszieren und an gemeinnützige Organisationen zu übergeben. Seither hat der Staat Mafiagüter im Gesamtwert von über 30 Milliarden Euro beschlagnahmt: Hotels und Ferienanlagen, Appartementhäuser und Villen, Pizzerien und Konditoreien, Gutshöfe, Felder, Wald und Wiesen. Der Dachverband der italienischen Anti-Mafia-Vereine, Libera, hat unzählige Kooperativen gegründet, in denen arbeitslose Jugendliche und ehemalige Drogenabhängige auf den beschlagnahmten Ländereien zusammen mit ausgebildeten Landwirten die Äcker bestellen, Olivenöl pressen, Hartweizen mahlen und Wein keltern.

„Doppelte Ohrfeige“ für die Clans

Die Produkte der Libera-Kooperativen werden in eigenen Bioläden verkauft, die den schönen Namen „Sapori della legalità“ tragen – „Geschmack der Legalität“. Der erste Laden öffnete im Jahr 2007 in Rom; heute gibt es sogar einen in Corleone, der Heimatstadt von Toto Riina und Bernardo Provenzano. Die Kooperativen seien eine „doppelte Ohrfeige“ für die Clans, betont der Gründer von Libera, der ehemalige Priester Don Ciotti: „Zum einen hat man sie enteignet, zum anderen entsteht gerade auf ihrem früheren Land so etwas wie Gemeinschaftsgefühl und Gemeinsinn.“ Beides sei Gift für die kriminellen Clans: „Was Sinn stiftet und zu einem ehrlich erwirtschafteten Auskommen beiträgt, wird von der Mafia gefürchtet.“ Libera hat inzwischen im ganzen Land mehr als 15.000 Mitglieder.

„Die Cosa Nostra befindet sich in einer tiefen Krise“, betont Mafiaspezialist Forgione. Die „Strategie der Blutbäder“ der „Corleonesi“ sei gescheitert, die Anführer entweder tot oder unter dem Regime von Artikel „41bis“, also in Isolationshaft. Die Mafia mordet (fast) nicht mehr: In den 80er- und 90er-Jahren starben in Italien jedes Jahr durchschnittlich 500 bis 600 Menschen durch die Hand der Clans, im Rekordjahr 1991 zählte man über 1900 Tote. Heute liegt die Zahl der Mafiamorde noch bei knapp zwei Dutzend jährlich, und fast immer handelt es sich dabei um interne Abrechnungen: Die Mafia dezimiert sich selber. Der letzte Polizisten- oder Richtermord liegt Jahre zurück, und Palermo, die einst als „Schießstand der Cosa Nostra“ verschrieene Hauptstadt Siziliens mit ihren 700.000 Einwohnern, hatte 2019 die tiefste Mordrate Italiens.

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Messina Denaro sei einer der Ersten gewesen, der eingesehen habe, dass es für die Mafia vorteilhafter ist, wenn sie das Töten einstellt, abtaucht und unbemerkt im Hintergrund ihren Geschäften nachgeht, sagt Forgione. Unter ihm habe sich die Cosa Nostra von einer Bauernmafia zu einer kapitalistischen Unternehmer- und Finanzmafia gewandelt, die in Windkraftanlagen, Supermärkte und in Privatkliniken investiere – eben mit der Hilfe der mafiösen Bourgeoisie, die sie dabei unterstützt und mitverdient. Eine ähnliche Entwicklung hat die ‘Ndrangheta durchgemacht, die die Cosa Nostra als gefährlichste und mächtigste italienische Mafia abgelöst hat.

Über 30 Milliarden Umsatz jährlich machen die Clans laut Angaben der nationalen Anti-Mafia-Direktion allein im Inland. Und längst hat die Mafia, vor allem die ‘Ndrangheta, ihre Aktivitäten ins Ausland diversifiziert, wie Forgione schon 2009 in seinem Buch „Mafia Export“ nachwies – mit detaillierten Karten, wo die Ableger der Clans eingezeichnet waren. Aus dem Krebsgeschwür, an dem der befallene Organismus stirbt, ist ein Parasit geworden, der sich von seinem Wirt ernährt, ohne ihn zu töten. Aber der Wirt, also die italienische Gesellschaft, hat Abwehrkräfte entwickelt. Auch in den kleinen sizilianischen Orten Campobello di Mazara und Castelvetrano, wo die Bosse vor 20 Jahren noch alles kontrollierten – und wo die Menschen nun keine Angst mehr haben.

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