Die Unheilsverkünder aus der Vergangenheit: Was uns Hungersteine verraten
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Hungerstein in der Elbe.
© Quelle: Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden
Berlin. Jan-Michael Lange ist Spezialist für steinerne Geschichte. Der Gesteinskundeprofessor der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung in Dresden beschäftigt sich mit seinem Team von den Naturhistorischen Sammlungen vor allem mit der Rekonstruktion der Hebungs- und Flussgeschichte Sachsens. Die Sedimente der fossilen Elbe sind dabei von besonderem Interesse.
Breites öffentliches Interesse finden diese Forschungen selten, die Themen sind meist speziell bis sehr speziell – wenngleich sie auch klimatische Veränderungen beleuchten. Aufmerksamkeit erregten Lange und die Fachleute vom Hochwasserzentrum Sachsen sowie der Archäologischen Gesellschaft in Sachsen mit Nachforschungen, die eher Hobbycharakter tragen.
Lange sagt, ihn als Gesteinskundler interessieren eigentlich nicht so sehr Ereignisse, die Jahrhunderte zurückliegen. „Wir denken eher in Millionen von Jahren.“ 2003 wiesen die Fachleute erstmals öffentlichkeitswirksam auf Wasserstandsmarken hin, die keine Hochwasser-Höchststände an Gebäuden oder Mauern anzeigten.
Hungersteine in Flüssen: In Vergessenheit geraten
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Professor Jan-Michael Lange von der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung in Dresden.
© Quelle: Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden
In Vergessenheit geraten war, dass es auch Niedrigwassermarkierungen gibt. Wenn Felsen, Findlinge oder Sandsteinbrocken, die eigentlich nicht im Fluss zu sehen sind, auftauchen und mit Jahreszahlen und Wasserstandsmarken versehen sind, werden sie „Hungersteine“ genannt.
In der tschechischen Elbestadt Děčín nahe der sächsischen Grenze liegt ein Stein, der durch seine schaurige Inschrift zu Berühmtheit gelangt ist. Ist das Wasser zu niedrig, kann man deutlich lesen: „Wenn du mich siehst, dann weine.“ Der älteste heute noch lesbare Eintrag auf diesem Hungerstein stammt aus dem Jahre 1616.
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Hungerstein in Děčín.
© Quelle: Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden
Niedrigwasser bedeuteten Dürre und Hunger
Dieser markante Satz kommt nicht von ungefähr. Wenn extremes Niedrigwasser war, bedeutete es für die Flussanwohner nichts Gutes, sagt Lange. Denn langanhaltende Trockenheit und Dürren hießen in der Folge schlechte Ernten – und Hunger. Professor Lange sagt, die Steine dokumentieren „einschneidende Ereignisse“ im Leben der Flussanwohner, die grobe hydrologische und klimatische Rückschlüsse für den Zeitraum vor Beginn der amtlichen Wasserstandsmessungen zulassen.
Hierbei zeige sich: Dürren und Niedrigwasserperioden gab es schon immer. „Für das Flussgebiet der Elbe sind wiederholt außergewöhnliche Trockenzeiten belegt, die mit starkem Wassermangel einhergingen. Berichte dazu reichen bis in das 16. Jahrhundert zurück“, schrieben Lange und seine Kollegen bereits 2019 in den „Sächsischen Heimatblättern“.
In diesem Jahr gibt es zahlreiche Meldungen über das „Auftauchen“ von Hungersteinen. Das extreme Niedrigwasser gibt sie am Rhein, an der Mosel und in der Weser frei. Vor allem jedoch können Interessierte sie an der Elbe sehen. Weit über 100 dieser Steine sind inzwischen in der Elbe zwischen Techlovice nad Labem in Tschechien bis Magdeburg in Sachsen-Anhalt von Lange und den Experten und Expertinnen in Projekten 2015 und 2018 kartiert worden.
Hungersteine sind nicht wahllos im Fluss verteilt
Registriert wurden dabei jeweils die geographische Position (UTM-Koordinaten), die Größe des Objektes (Länge, Breite, Höhe), die Gesteinsart, der Abstand zwischen höchstem Punkt des freiliegenden Steines und der Wasserlinie sowie die genaue Uhrzeit und der Wasserstand des nächstgelegenen Pegels zu diesem Zeitpunkt. Dies dient dazu, den Wasserstand abzuschätzen, ab dem ein Hungerstein im Fluss sichtbar wird.
Interessant: Hungersteine seien entlang der Elbe nicht wahllos verteilt, sondern würden in bestimmten Flussabschnitten gehäuft auftreten. Vor allem bei Decin, Schmilka, Königstein, Pirna und Leckwitz. „Hier sind häufig gut bearbeitbare Gesteine wie Sandsteine zu finden“, erklärt Lange.
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Fachleute bei der Dokumentationskampagne 2018.
© Quelle: Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden
Kein Wunder, meint er. Im Elbsandsteingebirge wurde intensiv abgebaut, zum Beispiel für die Stadt Dresden. „Die Leute am Fluss kannten sich mit dem Stein aus und seiner Bearbeitung.“ Aus Flussbereichen, in denen sehr harte oder auch vergleichsweise weiche Gesteine dominieren, seien hingegen keine entsprechenden Niedrigwassergravuren bekannt.
Die Fachleute halten die seit 2015 systematisch dokumentierten Hungersteine in der Elbe für wertvolle Zeitzeugnisse. Sie werben dafür, den sächsischen Hungersteinen einen Status als schützenswerte Bodendenkmäler zu verleihen.
„Not am Mann“
Dem Geologen gibt derzeit eines zu denken: Durch die Staustufen der Elbe in Tschechien könne der Wasserstand technisch reguliert werden. „Deshalb sollten die Hungersteine eigentlich gar nicht zu sehen sein. Wenn das doch wie zuletzt 2018, 2019 und in diesem Jahr geschieht“, vermutet der Professor, „ist wohl Not am Mann.“
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