„Welcome to Chippendales“: packendes Psychodrama im R(osar)otlichtmilieu
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Eine Szene aus „Welcome to Chippendales“.
© Quelle: HULU
Wir leben in Zeiten omnipräsenter Sexualität. Seit Smartphones und Youporn sie ständig verfügbar machen, erinnert sich höchstens die Nachkriegsgeneration noch daran, dass simple Nacktheit mal ein Tabu war, dessen Bruch auch Erwachsene aus der Fassung bringt. Etwa, als ein ehrgeiziger Immigrant 1979 seine Bar am Rande von L. A. in einen Stripclub verwandelte. Wobei: Es kam auch auf das Geschlecht der Nackten an.
Sieben Jahre, nachdem „Deep Throat“ mit 600 Millionen Dollar das Vieltausendfache der Produktionskosten eingespielt und so das Golden Age of Porn eingeläutet hat, sind nackte Tatsachen auf offener Bühne kaum einer Erwähnung mehr wert. Es sei denn, Objekt und Subjekt voyeuristischer Fleischbeschau werden vertauscht: Weil sich im Chippendale Männer vor Frauen ausziehen, sorgte es für voyeuristische Gleichberechtigung. Der unerhörte Perspektivwechsel bewahrte den Besitzer zudem vor der Pleite und bietet uns damit Gelegenheit zum Schlüssellochblick der besonderen Art.
Geschichte der Chippendales in Streamingserie verwandelt
Der Streamingdienst Hulu hat die Geschichte der Showtruppe in eine Streamingserie verwandelt. Und seitdem das Resultat nun bei Disney+ gestartet ist, reiht sich „Welcome to Chippendales“ auch hierzulande ins Portfolio lebenspraller Kostümfeste ein, die von Aerobic („Physical“) über Basketball („Winning Time“), Hip-Hop („The Get Down“), Wrestling („Glow“) bis hin zu Pamela Anderson („Pam and Tommy“) popkulturelle Errungenschaften des späten 20. Jahrhunderts rekapitulieren.
Acht Folgen lang lässt Robert Siegel seine Drehbücher von einer Handvoll Regisseure zum Porträt eines popkulturellen Seitenarms auf dem schmalen Grat Richtung Mainstream dekorieren. Schon zu Beginn aber geht der Showrunner übers Reenactment zeitgeschichtlicher Begebenheiten hinaus. Als Diebe den Tankstellenpächter Steve Banerjee (Kumail Nanjiani) erst beklauen und dann demütigen, löst der indische Einwanderer sein Sparkonto auf, kündigt und erfüllt sich den Traum eines Backgammonclubs im Stil seines Idols Hugh Hefner.
„Playboy“-Mansion entpuppt sich als billiges Luftschloss
Doch wie zu erwarten, entpuppt sich die „Playboy“-Mansion als billiges Luftschloss, das er mithilfe des Nachtclubpromoters Paul Snider, auf megalomane Art mittelmäßig verkörpert vom wunderbaren Dan Stevens („Ich bin dein Mensch“), nach einem Erweckungserlebnis im Schwulenclub zur Weltmarke freizügiger Kerle vor Millionen kreischender Hausfrauen ausbaut. Selten waren sechs Geschichtsstunden unterhaltsamer, die dank der trüb glitzernden Begleitumstände sogar Suchtpotenzial entwickeln. Sniders Mord am Playmate Dorothy Stratton (Nicola Peltz) zum Beispiel mit anschließendem Suizid.
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Erst Eskalationen wie diese machen „Welcome to Chippendales“ zum packenden Psychodrama im R(osar)otlichtmilieu. Neben Murray Bartlett als Choreograf Nick De Noia brilliert Juliette Lewis darin als Kostümbildnerin Denise um die Wette mit Annaleigh Ashford als Banerjees Buchhalterin Irene und steigert dessen – verbrieftes, aber frei interpretiertes – Aufstiegsmärchen zur Abstiegsenthüllung. Schließlich deutet der Tod zweier Hauptfiguren früh an, dass die Tänzer bis heute auf einem Berg fataler Exzesse strippen.
Gewalt, Steroide, Alkohol, Leistungsdruck, stereotype Männlichkeit
Gewalt, Steroide, Alkohol, Leistungsdruck, dazu ein denkbar dämliches Bild stereotyper Männlichkeit – angesichts all dieser Abgründe verfallen Regisseure wie Gwyneth Horder-Payton fast folgerichtig in den Stil exaltierter Blaxploitation-Filme der Siebziger, die Ausbeutung marginalisierter Gruppen zugleich kritisieren und ironisieren. Darüber hinaus jedoch ist „Welcome to Chippendales“ ein funkensprühendes, hintergründig sozialkritisches, beherzt diverses Serientheater, das anders als hierzulande nie karnevalesk aussieht und schon deshalb so sehenswert ist.
„Welcome to Chippendales“ ist bereits streambar bei Disney+.