Streamingkritik

Damals in Fukushima: Netflix-Serie „The Days“ erzählt von der Reaktorkatastrophe

Organisiert die Maßnahmen im havarierten Kernkraftwerk Fukushima Daiichi: Auf den Erinnerungen des Stationsleiters Masao Yoshida (Koji Yakusho, 3. v. r.) basiert die neue Netflix-Serie „The Days“.

Organisiert die Maßnahmen im havarierten Kernkraftwerk Fukushima Daiichi: Auf den Erinnerungen des Stationsleiters Masao Yoshida (Koji Yakusho, 3. v. r.) basiert die neue Netflix-Serie „The Days“.

Die Lichtkegel von Helm- und Taschenlampen tanzen in der Finsternis. Kraftwerksmitarbeiter gehen auf die Suche nach zwei jungen Kollegen, die sich nicht mehr gemeldet haben. Sie sind im stockfinsteren Turbinenhaus von Block eins des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi, unterwegs zum Reaktorgebäude. Dann rast plötzlich der Geigerzähler los, und jetzt wird die Suche lebensgefährlich – und hoffnungslos. In der japanischen Netflix-Serie „The Days“ wird von dem Reaktorunglück vom März 2011 erzählt, das in Deutschland schon drei Monate später zum 2023 abgeschlossenen Ausstieg aus der Atomenergie führte (während Japan, wie erst am 31. Mai bekannt wurde, per Gesetz unbegrenzte Laufzeiten seiner Atomreaktoren beschloss, um bis 2050 seinen CO2-Ausstoß auf Null bringen zu können).

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Der Kamm eines 15-Meter-Tsunamis spannt sich über den Horizont

Alles beginnt mit einem Erdbeben, das am 11. März 2011 ganz Japan erschüttert. Das Epizentrum liegt vor der Pazifikküste. Erst wackeln Bücher und Akten, dann schlittern Schreibtische, kippen Schränke im Verwaltungszentrum von Fukushima. Eine Tsunamiwarnung wird ausgegeben, die Arbeitenden begeben sich routiniert, fast gemütlich in das höher gelegene, seismisch isolierte Schutzgebäude.

Und dann sieht man die Welle: Erst ist sie nur ein Gischtkamm, der sich wie eine weiße Linie quer über den Horizont spannt, dann stürzt die Wand aus Wasser auf das Gelände von Fukushima I und die schlimmste Reaktorkatastrophe seit Tschernobyl nimmt ihren Lauf. Vier von sechs Reaktorblöcken sind betroffen, in dreien wird es im Lauf der folgenden Tage zu Kernschmelzen kommen.

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Japan hatte schon durch die Atombombenabwürfe ein nukleares Trauma

Das Regieduo Masaki Nishiura und Hideo Nakata – durch die Originalversionen der „Ring“-Horrorfilme auch hierzulande bekannt – erzählt von einer Nation in Schockstarre. Japan hat schon ein nukleares Trauma, es war das einzige Land der Welt, gegen das je Atombomben eingesetzt wurden.

Zum Horror von Hiroshima und Nagasaki kam 66 Jahre später Fukushima hinzu. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Stoff dramatisch verarbeitet wurde. Wobei auch der Erfolg von HBOs Miniserie „Chernobyl“ (2019) zur Entstehung von „The Days“ beigetragen haben dürfte.

Die Folgen des Erdbebens verhindern schnelle Rettungsmaßnahmen

„The Days“ wechselt zwischen den Ereignissen im finsteren Kontrollraum des Kraftwerks, dem mit Computern ausgestatteten Schutzgebäude vor Ort und dem Lagezentrum des Premierministers (Fumiyo Kohinata), der über dem Blabla der Expertinnen und Experten und falschen Entscheidungen der Betreiber – etwa vorerst nicht zu evakuieren – wiederholt die Geduld verliert.

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Löschfahrzeuge, auf die man setzt, um die Reaktoren von außen zu kühlen, finden keine Routen über die zerstörten Straßen. Dann kommt doch ein Ersatzgenerator durch, aber in Dunkelheit und im überall herumschwimmenden Schrott sind Installationen per Hand nur schwer zu verrichten. Die Brennstäbe liegen frei, jede Sekunde zählt.

„Chernobyl“ ist die beklemmendere Serie

„The Days“ schafft durchaus ein Gefühl für Krise und Bedrohung, erreicht dabei aber nie das Beklommenheitslevel von „Chernobyl“. Bei der nuklearen Havarie von 1986 fand zugleich noch ein Ringen mit dem Sowjetsystem statt, das die Katastrophe aus Prestigegründen nicht eingestehen wollte. Es kann nicht sein, was die Partei untersagt zu sein.

In der Serie „Chernobyl“ stand die Strahlung gefühlt wie Dunst im Wohnzimmer des Zuschauers oder der Zuschauerin und ihre Farbe war ein giftiges Grün. Als man den Trupps zusah, die im Minutentakt das schwer radioaktive Grafit vom Dach räumten, fühlte man tatsächlich Angst in sich aufsteigen. Der Hubschrauber, der über dem offenen Reaktor zerbrach und in die Tiefe stürzte, war ein ähnlich unvergessliches Bild wie der Einsatz der Bergwerksleute, die ihre tödliche Arbeit nackt verrichteten.

Und Stellan Starsgard und Jared Harris waren keine Helden der Sowjetunion, sondern zwei Männer, die ihr Misstrauen voreinander überwinden mussten, um der Sache und der Welt zu dienen. Kein Lied des Übermenschlichen wurde von Showrunner Craig Mazin gesungen, sondern eins über Unzulänglichkeit, Bespitzelung und Niedergang.

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„Was für ein Albtraum“, seufzt der Stationsleiter Masao Yoshida (Koji Yakusho), der Protagonist von „The Days“, dessen Erinnerungen zu den Quellen der Serie zählen. Er löst den ersten Alarm aus, er trifft die Entscheidung, Leute in die Finsternis zu schicken, um Ventile von Hand zu öffnen, weil die Elektronik nicht mehr funktioniert – ein Himmelfahrtskommando. Yoshida bewahrt Haltung und Überblick, wo die Kraftwerksbetreiber in scheinbarer Unkenntnis ihrer Anlagen und Fehleinschätzung der Situation nur stammeln, vertrösten und verhindern.

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Das Außen kommt indes kaum vor, die Sorgen der Familien der beiden jungen vermissten Kraftwerksmitarbeiter etwa reduzieren sich pflichtschuldigst auf Bilder eines hilflos wütenden Vaters und einer angsterfüllten Mutter, die Hunderte bunter Origami-Kraniche faltet, als würde ihr nach dem 1000. tatsächlich ein Wunsch von den Göttern erfüllt, wie es vom Volksglauben überliefert ist.

Die Serie fühlt sich an, als würde sie in Echtzeit erzählt

Wieder und wieder sind „Talking Heads“ zu sehen, sich wiederholende Nahaufnahmen bestürzter, betretener, gestresster, wütender und ratloser Gesichter. Wahlweise sieht man Hände, die im Close-up Telefonhörer auf den Apparat legen. Erst in der fünften Episode kommt es zur ersten Wasserstoffexplosion in Block eins – da war in „Chernobyl“ schon alles erzählt.

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Die Serie „The Days“ wird so ihrem Titel in zweierlei Hinsicht gerecht – sie handelt von „den Tagen“ der Katastrophe, als sich zeigte, dass an ungünstigen Orten erbaute Atomkraftwerke nicht jeder Naturkatastrophe standhalten, als 50 Millionen Menschen in Japan vor der Evakuierung standen, ein Drittel Japans unbewohnbar zu werden drohte.

Und sie kommt einem dabei zunehmend vor, als würde in Echtzeit erzählt.

„The Days“, acht Episoden, von Jun Masumoto, Regie: Masaki Nishiura, Hideo Nakata, mit Koji Yakusho, Yutaka, Takenouchi. Fumiyo Kohinata, Kaoru Kobayashi, Takuma Otoo, Ken Mitsuishi, Kenichi Endo (ab 1. Juni bei Netflix)

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