„Die Menschen suchen Aufbruchstimmung in Retrotrends“
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Viele Menschen flüchten sich aus Angst vor der Zukunft in Retrotrends.
© Quelle: Julian Florez/Unsplash
Stephan Grünewald ist Psychologe und Mitbegründer des Rheingold-Instituts. Dort forscht er mit seinen Kolleginnen und Kollegen zur Psyche der Deutschen. Die Ergebnisse sind gefragt: So hat sich zum Beispiel die Bundesregierung bei ihrer Klausur im März 2023 von Grünewald beraten lassen. Auch viele Unternehmen vertrauen auf die Erkenntnisse aus tiefenpsychologischen Interviews. Mit deren Hilfe sollen unbewusste seelische Einflussfaktoren und Sinnzusammenhänge sichtbar gemacht werden.
Herr Grünewald, was überwiegt bei den Deutschen, Zukunftsangst oder Zuversicht?
Wir beobachten eine ungeheure Diskrepanz zwischen einer überraschend hohen privaten Zuversicht und erschreckend geringer Zuversicht im Hinblick auf Politik und Gesellschaft. Die Menschen teilen ihre Wirklichkeit auf. Einerseits haben sie sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen und fühlen sich darin geborgen. Andererseits gibt es die Welt mit ihren Krisen da draußen, zu der es eigentlich ein Fenster gibt. Da hängt im Moment aber ein Vorhang davor.
Wie äußert sich das?
Die Deutschen setzen sich mit der Welt da draußen nur noch am Rande auseinander, das heißt, sie verfolgen zum Beispiel weniger Nachrichten. Stattdessen tauchen sie in eine eigene Welt ab und beschäftigen sich zum Beispiel mit Serien, Musik oder Mode.
Die Popkultur scheint auch nicht besonders visionär zu sein. Stattdessen ist eine „Baywatch“-Neuauflage geplant, Kate Bush ist wieder in den Charts und junge Menschen tragen gerade geschnittene Jeans.
Die Welt jenseits des eigenen Schneckenhauses erscheint räumlich und zeitlich als bedrohlich. Die meisten Menschen haben keine Idee von der Zukunft. Die Zeitenwende – um den Begriff von Olaf Scholz aufzugreifen – hat psychologisch noch gar nicht stattgefunden. Stattdessen befinden wir uns in einer permanenten Nachspielzeit: Die Gegenwart soll erhalten bleiben. Weil das aber auch langweilig ist, suchen die Menschen eine Aufbruchstimmung in Retrotrends.
Warum kommen die vor allem aus den 70er- und 80er-Jahren?
Diese Zeiten verströmen eine elanvolle und lebendige Stimmung. Damals hatte man die Zukunft noch vor sich. Selbst die jungen Menschen, die das damals nicht selbst miterlebt haben, kennen das aus dem kollektiven Gedächtnis, weil die Eltern von den Jahrzehnten erzählen oder sie mal einen Film aus der Zeit gesehen haben. Und der Trend verstärkt sich dann selbst, zum Beispiel in den sozialen Medien, weil man dazugehören will. Der Umgang mit Gleichgesinnten ist für viele eine Zuversichtsquelle. Natürlich verstehen das auch Marken und setzen dann in der Werbung auf Retrogefühle.
Ist das nicht problematisch, sich vor der Zukunft in die Vergangenheit zu flüchten?
Psychologisch betrachtet kann es im Gegenteil sogar gesund sein. Der Blick in den Rückspiegel kann uns ja auch zeigen, dass es immer schon Herausforderungen und Ängste gab, wir aber damit fertig geworden sind. „Et hätt noch immer jot jejange“, sagt man bei uns in Köln. Die Retrotrends dienen insofern der Selbststärkung. Problematisch ist es jedoch, wenn diese Bestärkung nicht in die Zukunftstransformation investiert wird. Das ist wie mit einem Ritter, der nicht mehr in die Schlacht zieht, weil er bis an sein Lebensende von dem einmal errungenen glorreichen Sieg träumt.
Und die Retrotrends dauern auch nicht ewig an.
Ja, wir recyceln sozusagen Stimmungen von früher. Aber weil die Trends nicht wirklich neu sind, werden sie schnell wieder schal. Und weil das eigentliche Ziel ist, eine Aufbruchstimmung zu verspüren, braucht es in immer schnelleren Abfolgen neue Retrotrends. Wie wenn man bei Drogen immer häufiger eine höhere Dosis braucht.
Gab es solche Phasen in der Vergangenheit schon einmal?
Zukunftsängste gibt es immer wieder. Ganz ausgeprägt zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings war die Lage damals eine andere: Es gab in der Gesellschaft einen hohen Leidensdruck, den wir heute angesichts des relativ hohen Wohlstandes nicht mehr haben. Und es gab damals eine klare Zukunftsvision: Wir wollen wieder ein Dach über dem Kopf haben, dieses Land wieder aufbauen. Beides hat dazu geführt, dass der Veränderungswille stärker als die Angst war. Ansatzweise vergleichbar mit heute ist die Phase um die Jahrtausendwende. Auch damals gab es kein produktives Zukunftsbild. Stattdessen gab es Schreckensszenarien, dass um Mitternacht alle Computer abstürzen könnten. Deshalb kamen damals auch Retrotrends stark auf.
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Stephan Grünewald (links) berät Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und das Kabinett bei seiner Klausur in Meseberg im März 2023.
© Quelle: Bundesregierung/Denzel
Spiegelt sich die Sehnsucht nach der Vergangenheit auch abseits der Popkultur wider?
Ja, neben dem Retrotrend gibt es auch einen Nachhaltigkeitstrend. Natürlich ist der vordergründig immer auf ökologische Themen wie das Klima gemünzt, aber im Grunde steckt darin etwas Erzkonservatives. Der Kern von Nachhaltigkeit ist die Sehnsucht nach dem Bewahren, alles soll so bleiben, wie wir es aus unseren Kindertagen kennen. Das ist aber paradox: Die Welt kann angesichts der Krisen nur so bleiben wie sie ist, wenn wir bereit dazu sind, etwas zu verändern. Die Klimakrise ist dafür das perfekte Beispiel. Und analog zum Nachhaltigkeitstrend gibt es den Heimattrend. Nach der Globalisierung besinnen wir uns auf das Regionale, das uns altbekannt ist.
Ist das alles typisch deutsch, oder gibt es diese Fluchtmechanismen auch anderswo?
Es gibt ja den Begriff der „German Angst“. Das ist zunächst Ausdruck dafür, dass wir anders als zum Beispiel Frankreich mit seiner ausgeprägten Genusskultur keine so klare Identität haben. Das ist natürlich auch durch die Brüche in der deutschen Geschichte bedingt. Eine gefestigte Identität ist aber ein Polster, das vor Zukunftsangst schützen kann, weil man etwas hat, auf das man sich verlassen kann. Weil uns dieses Polster fehlt, spannen wir in Deutschland oft ein Sicherheitsnetz aus DIN-Normen, Paragrafen und Bürokratie. Diese TÜV-Mentalität hemmt uns. Wenn wir uns hingegen als Land der Tüftler und Erfinder sehen, springen wir optimistischer in die Zukunft.
Das ist alles in allem ein düsteres Bild davon, wie fit die Deutschen für die Zukunft sind.
Die „German Angst“ kann uns möglicherweise aber auch helfen. Wir springen nicht sofort, sondern betreiben erst mal Problemanalyse. Das hilft dabei, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, die es für eine gute Zukunft braucht. Vielleicht ist das der Schritt, der jetzt bevorsteht. Ich vertraue darauf, dass wir noch die große Kraftanstrengung wagen werden, die uns dann in die Zukunft führt.
Und dann werden die Retrotrends wieder abflachen?
Ganz verschwinden werden sie wahrscheinlich nicht. Sie sind dann immer noch ein Mittel, um uns selbst zu bestärken. Aber wir brauchen dann die Retrotrends nicht mehr, um unser visionäres Vakuum aufzufüllen.