Kirchtürme, Burgruinen und Bergspitzen: Warum wir im Urlaub hoch hinaus wollen
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Im Urlaub klettern manche Menschen gern auf Bergen herum.
© Quelle: Leiomclarenn/Unsplash
Drei Stunden in der Gluthitze eines Sommernachmittags anstehen, um dann 720 Stufen raufzuächzen, nur um von oben auf Häuser, Straßen und Plätze zu blicken, die eigentlich voller Leben sind, aber aus der Vogelperspektive so tot wirken wie ein Schottergarten? Zumal der Eiffelturm ja nur vergleichsweise wenig imposante 300 Meter hoch ist. Dann lieber ab auf den Burj Khalifa in Dubai, mit 828 Metern das derzeit höchste Gebäude der Welt. Die zweite Aussichtsplattform befindet sich in 555 Metern Höhe. Ein Aufzug befördert die Besucherinnen und Besucher in weniger als einer Minute hinauf. Es geht sozusagen per Express gen Himmel. Von oben sieht man andere Hochhäuser, viel Beton und ein paar Wasserrinnsale. Ernüchternd oder erhebend?
Tatsache ist, dass gerade auf Reisen viele Menschen hoch hinaus wollen. Dabei geht es doch im Urlaub vor allem darum, mal runterzukommen. Stattdessen aber erklimmen wir auf Wander- und Städtetouren und selbst am Strand gern Klippen, Türme, Kuppeln, Felsen, Gipfel, Aussichtsplattformen und Panoramaterrassen, nehmen dafür körperliche Anstrengungen in Kauf und zum Teil auch schwindelerregende Ticketpreise. Denn: Höchste Punkte sind die Höhepunkte in den Ferien. Warum bloß?
Etwas Großes leisten
„Höhe hat für Menschen schon immer eine wichtige Rolle gespielt – für religiöse Inszenierungen, Machtdemonstrationen, aber auch für die Empfindung subjektiver Erhabenheit“, erläutert Prof. Doreen Huppert, Leiterin der Schwindelambulanz am Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum (DSGZ) der Ludwig-Maximilians-Universität München. Wir stehen also gern über den Dingen, verschaffen uns damit auch einen Überblick. Das kann befreiend sein: Die Welt zu unseren Füßen erscheint geordneter, weniger laut, weniger stressig oder gar bedrohlich.
Wer allerdings bequem mit dem Fahrstuhl auf eine Plattform hochsaust, bringt sich um das befriedigende Gefühl, etwas erreicht zu haben: Kirchtürme, Burgruinen und Bergspitzen werden nicht einfach besucht, sondern erobert und eingenommen. Der Aufstieg ist häufig mit einigen Anstrengungen verbunden. Wer angekommen ist, stößt nicht selten ein erleichtertes „Geschafft“ aus. Die Aussicht ist dann buchstäblich atemberaubend. Und nicht selten lässt man den Blick mit der Gewissheit schweifen, gerade Großes geleistet zu haben. Einerseits. Andererseits bekommt so manchem die Perspektive von oben nicht.
Vom Akrophobiker zum Dachflaneur
Schon Hannibals Soldaten hatten bei der Alpenüberquerung gehörig mit Schwindel zu kämpfen, wie römische Quellen belegen. Und selbst der geniale Goethe, der seinen Einstand in Weimar als 26-Jähriger in einem kleinen Theaterstück als „Hochmutsteufel“ auf hohen Stelzen gab und auch sonst sein Leben lang als recht hochnäsig galt, litt als junger Mann unter Höhenangst: „Besonders aber ängstigte mich ein Schwindel, der mich jedes Mal befiel, wenn ich von einer Höhe herunterblickte“, gestand er in „Dichtung und Wahrheit“. Und doch konnte er offenbar dem Reiz nicht widerstehen, ganz nach oben zu kommen. So auch auf das Münster in Straßburg, wo er einst studierte. Die 66 Meter hohe Aussichtsplattform machte dem Dichter gehörig zu schaffen. „Wohl eine Viertelstunde lang“ harrte er auf den letzten Treppenstufen aus, bis er schließlich wagte, ins Freie zu treten. Goethe unterzog sich schließlich selbst einer Konfrontationstherapie und wiederholte den Aufstieg so oft, „bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward“. Später sei er sogar „mit den Zimmerleuten um die Wette über die freiliegenden Balken und über die Gesimse“ historischer Bauten gelaufen, prahlte er.
Vom Akrophobiker zum Dachflaneur – geht das? Neurologin Huppert, die mit ihrem Team Studien und Untersuchungen zu Höhenschwindel und Höhenangst vornimmt, nennt zumindest die Konfrontation mit einer entsprechenden Reizsituation, auch Flooding genannt, als eine Möglichkeit einer erfolgreichen Therapie bei stark ausgeprägter Höhenangst mit Schweißausbrüchen, Zittern, weichen Knien und Herzrasen. Bei Höhenschwindel, der nur leichte Angst, Schwindel und eine gewisse Gang- und Standunsicherheit hervorruft, rät sie dazu, sich anzulehnen oder festzuhalten und den Blick auf den Horizont zu richten und nicht in den Abgrund.
Türme häufigste Auslöser für Höhenschwindel
Manchmal fasziniert die Höhe aber wohl gerade wegen der Tiefe, die sie offenbart. Im Französischen gibt es dafür einen eigenen Ausdruck: „L’appel du vide“, der Ruf der Leere. Im Englischen spricht man vom „Call of the Void“ oder auch dem „High Place Phenomenon“. In Literatur und Musik wird dieser vermeintliche Sog oft in Verbindung mit Todessehnsucht, menschlicher Urangst oder dem „Wunsch nach Rückkehr zu Mutter Erde“ gleichgesetzt. Huppert hält das alles für unwahrscheinlich: Solche psychologischen Deutungen stammten noch aus einer Zeit, als die körperlichen Reaktionen auf Höhe noch nicht so genau neurophysiologisch untersucht waren.
Häufigste Auslöser für Höhenschwindel sind laut der Professorin übrigens Türme. Wer mutig sein und hoch hinaus will, aber nicht den Blick nach unten wagt, springt am besten mit geschlossenen Augen vom Sprungturm im Schwimmbad. Da hat man immerhin auch Publikum, das zu einem aufschaut. Und das kann zuweilen ja auch ganz erhebend sein.
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