Zum 80. Geburtstag von Defa-Häuptling Gojko Mitic: Wir waren alle Indianer

Bad Segeberg 2006: Der Schauspieler Gojko Mitic in seiner Rolle als Apachenhäuptling Winnetou.

Bad Segeberg 2006: Der Schauspieler Gojko Mitic in seiner Rolle als Apachenhäuptling Winnetou.

Der Carsten mit C aus dem Nachbarhaus, der etwas ältere Frank Greulich, der am liebsten allein spielte, Jordis und ich – wir alle waren Indianer. Damals im drögen Osten der späten Sechziger-, frühen Siebzigerjahren. Der gesamte Hof des Triftwegs im Leipziger Stadtteil Marienbrunn war Indianergebiet. Kinder mit Gänsefedern im Stoppelhaar schlichen geduckt, mit Plastiktomahawk bewaffnet, durch die Hinterhöfe am Denkmalsblick, um dann laut jaulend in den Angriffsmodus umzuschalten.

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Es herrschte Krieg! Und ich vermute mal, nicht nur in Marienbrunn. Tokei-ihto, Tecumseh, Chingachgook, Osceola, Ulzana – für uns, die in den Sechzigerjahren im Osten geborenen Kinder der Babyboomer-Generation, waren es die Namen der Helden, mit denen wir in unseren Träumen ritten, kämpften, johlten.

Jeder kleine Indianer fühlte sich wie Gojko Mitic

Bei Lichte besehen hatten all diese Häuptlinge dasselbe Gesicht: das von Gojko Mitic, dem Defa-Chefindianer, in dessen alljährliche Kinopremieren wir mit pochenden Herzen zogen wie die Dakota in die Schlacht. Niemand blieb so cool, auch wenn wir diesen Begriff damals nicht kannten, während die Pfeile der verfeindeten Huronen den Umriss seines Luxuskörpers im Holz des Marterpfahls markierten. Keiner schoss schneller, ritt tollkühner, starb dramatischer – und sah dabei so gut aus. Ja, vermutlich schwang bei uns allen unbewusst eine Portion frühkindliche Sexualität mit – Indianer mit ihren langen Haaren, nackten Oberkörpern, dem wilden Outfit waren einfach sexy. Und sie bildeten so den Kontrast zum DDR-Alltag, der genau das nicht war. Unsere Städte waren grau, in unserer Freizeit zwang man uns in Pionier-Uniformen, den Urlaub verbrachten wir in der Bettenbaracke des FDGB-Ferienheims an der Müritz, während wir von den Black Hills träumten.

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Auf der Berlinale in diesem Jahr erhält der Schauspieler Gojko Mitic den “Premio Bacco”.

Auf der Berlinale in diesem Jahr erhält der Schauspieler Gojko Mitic den “Premio Bacco”.

Diese Indianerwelt war wie ein vom System beförderter Fantasieritt raus aus dem grauen Alltag. Und anders als die Mythen vom Kampf der längst zu SED-Apparatschiks mutierten Antifaschisten wurden die indianischen Helden von der Jugend tatsächlich angenommen. Mitic war einer der wenigen Defa-Stars, der sich den Weg in unsere Jungenherzen erkämpfte – neben den „West-Helden“ Marschall Matt Dillon und Festus aus der Serie „Rauchende Colts“ oder Daniel Boone. Zwischen 1966 und 1975 entstanden zehn Indianerfilme des DDR-Filmmonopolisten Defa. Lief einer dieser Filme im Fernsehen, wurde selbst bei uns zu Hause “Ostfernsehen” eingeschaltet, was sonst so gut wie nie geschah.

Unsere fast schon wahnhafte Indianerbesessenheit wurde über diverse Kanäle gefüttert. Zu Geburtstagen und Weihnachten bekam ich Indianerfiguren aus Kautschuk geschenkt, im Laufe der Jahre kam eine gewaltige Streitmacht zusammen. Mit Carsten mit C spielte ich die Filme nach – und korrigierte im Spiel das Drehbuch, weil doch zu oft am Ende das Böse triumphiert hatte. Und natürlich gewannen immer die Indianer, was allein schon daran lag, dass das Angebot an Figuren, die überwiegend von kleinen ehemaligen Familienunternehmen im südthüringischen “Sonneberger Spielzeugwinkel” hergestellt wurden, klar Schlagseite hatte: Zwei Drittel waren Indianer, nur ein Drittel “Bleichgesichter”. Das Ungleichgewicht zwischen Roten und Weißen glichen wir aus, indem die Cowboys durch Wehrmachtssoldaten aus Elastolin verstärkt wurden, Spielzeug meines Vaters.

Insgesamt 140 verschiedene Indianer- und Cowboyfiguren gab es. Ich glaube, wir hatten sie alle. Aus Kleinteilen zusammensteckbare “West-Indianer” verirrten sich dank eines Weihnachtspakets auch in unsere Sammlung, genügten aber unseren Ansprüchen nicht. Die Figuren waren zu klein, wirkten wie Pygmäen und waren nicht einmal als Gefallene zu gebrauchen. Welch paradoxe Situation: Da hockten wir mitunter tagelang bei Carsten auf dem Fußboden, spielten mit Kautschukindianern und Elastolin-Nazis Szenen aus “Die Spur des Falken” nach, während als Soundtrack dazu vom Plattenspieler “Vorwärts, Bolschewik”, gesungen vom Arbeiterbarden Ernst Busch, schnarrte. Carstens Vater war ein betagter Altkommunist.

Jener, der die Liebe der Deutschen zu den Indianern Generationen zuvor mit immer neuen Büchern befeuert hatte, war uns damals noch unbekannt. Der Sachse Karl May wurde in der DDR lange Zeit ignoriert. Die SED-Ideologen warfen ihm “Rassismus” und “Deutschtümelei” vor. Dass Adolf Hitler ihn einst zu seinem Lieblingsautor gekürt hatte, mag auch eine Rolle gespielt haben. Die im Westfernsehen übertragenen “Winnetou”-Verfilmungen überzeugten uns nicht so richtig. Tatsächlich waren die Defa-Indianerfilme im Vergleich dazu brutal, eigentlich für Kinder ungeeignet. Es gab Massaker an Frauen und Kindern, das Böse durfte sich ungehemmt austoben. Denn ganz nebenbei transportierten diese Filme auch eine ideologische Botschaft, die eine Konstante vom “Wilden Westen” bis in die (amerikanische) Gegenwart ziehen sollte.

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Die Filmbösewichter waren überzeichnete Gegenentwürfe zur Lichtgestalt Gojko Mitic – skrupellos, feige und obendrein hässlich. Sie hießen James Bashan (wir nannten ihn “Bäschn”) oder Joe Bludgeon (“Platschn”). Rolf Hoppe war ganz sicher einer der begnadetsten deutschen Schauspieler der Nachkriegszeit, für mich blieb er auch in seinen späteren Rolle stets verlinkt mit dem verhassten, feigen Mörder an der schönen Indianerin Blauhaar, Weitspähenden Falkes großer Liebe.

Ich war schon lange kein Indianer mehr, als Karl May rehabilitiert wurde, wenige Jahre, bevor die DDR als Staat “in den ewigen Jagdgründen” aufging. Das DDR-Fernsehen strahlte die im Westen gedrehten “Winnetou”-Filme erstmals an Weihnachten 1982 aus. May, der Proletariersohn, wurde als aufrechter “Kämpfer gegen die US-amerikanische Raub- und Ausrottungspolitik” geadelt, seine Bücher erschienen im Verlag Neues Leben. Die Rehabilitierung des sächsischen Hochstaplers, der nie den Wilden Westen bereist hatte, vollzog sich in atemberaubendem Tempo – und offenbar mit dem Segen des ersten Mannes im Staat. “Lieber Genosse Erich Honecker! Nach deiner Anregung wurde in Dresden das Karl-May-Museum entsprechend den Traditionen gestaltet. Wie mir Genosse Hans Modrow mitteilte, wurde eine neue Ausstellung ‘Karl May – Leben und Werk’ in der Villa Shatterhand vorbereitet. Die Villa Bärenfett wurde komplex renoviert”, schrieb der damalige FDJ-Chef Egon Krenz.

Indianerfilme sind aus der Mode gekommen, Indianerspielzeug gibt es nur noch auf Trödelmärkten, und Kinder stecken sich zum Fasching keine Federn mehr ins Haar. Selbst der Begriff Indianer ist umstritten: Native Americans nennen die Amerikaner ihre Ureinwohner oder First Nations. Das verkitschte, romantisierte Bild der edlen Wilden ist in der tristen Wirklichkeit angekommen.

Im Herzen sind wir, die Generation der Babyboomer, aber immer Indianer geblieben. Und Gojko Mitic, der an diesem Wochenende in seiner Wohnung in Berlin-Köpenick seinen 80. Geburtstag feiert, ist ein gefragter Mann. Für die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg war er ein Segen; aus dem Defa-Chefindianer wurde ein gesamtdeutscher Winnetou. “Leider hat er sich in diesem Jahr dafür entschieden, keinerlei Interviews bezüglich seines Geburtstages zu geben”, teilt seine Tochter Natalie Bischof mit. Howgh, würde er jetzt wohl in einem seiner Filme sagen: “Ich habe gesprochen!”

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