Florian Illies: „Die Zwanziger sind eine Spiegelzeit für uns“

Florian Illies hat sein neues Buch „Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929–1939“ herausgebracht.

Florian Illies hat sein neues Buch „Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929–1939“ herausgebracht.

Herr Illies, wenn Sie die Augen zumachen und sich ins Romanische Café im Berlin des Jahres 1929 denken, was sehen Sie da?

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Wenn ich die Augen schließe und mich in diese Zeit zurückdenke, dann sehe ich eine ungeheure, atemlose Dynamik, redende, lachende, flirtende Menschen, dazwischen Kellner, die elegant ihre Tabletts balancieren. Ich will mich dazusetzen, einen Wein bestellen: und zuhören und zusehen.

Wen sehen Sie denn?

All die großen Schriftsteller und Journalisten jener Jahre, da hinten sitzt Erich Kästner, rechts thront Bertolt Brecht inmitten seiner geduldigen Frauen, und da links sehe ich Mascha Kaléko, sie dichtet gerade. Daneben ein Tisch, an dem Egon Erwin Kisch und Vladimir Nabokov Schach miteinander spielen. Und hinten an der Bar isst Josephine Baker Kartoffelsalat, wie immer vor ihren Auftritten.

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Dreharbeiten vor dem Romanischen Café in Berlin – etwa um 1930.

Dreharbeiten vor dem Romanischen Café in Berlin – etwa um 1930.

In Ihrem neuen Buch „Liebe in Zeiten des Hasses“ folgen Sie den Beziehungen, den Lieben, den sexuellen Affären, der Euphorie und den Enttäuschungen von Bohemiens in den späten Zwanziger- und Dreißigerjahren. Sind die Beziehungen dieser Zeit auch ein Theaterstück auf einer sehr großen Bühne?

Aber ja! Ich bin in meinem Buch ein stiller Beobachter eines wilden Durcheinanders. Es ist wie eine Bühne, auf der sich immer wieder neue Paarungen bilden, die Menschen laufen von dem einen zu dem anderen über, ohne mit der Wimper zu zucken. Und oft bleibt der Erste, der scheinbar Verlassene weiter mit dabei – es gibt in dieser leidenschaftlichen, rastlosen Zeit um 1930 jedwede Form von Bündnissen –, und in der Liebe jener Jahre scheinen wie in der Bundespolitik dieser Tage die Dreierbündnisse besondere Stabilität zu versprechen. Es geht, wie Olaf Scholz sagte, darum, „Zuneigung zu organisieren“. Das klingt wie eine Verhaltenslehre eines eisgekühlten Liebestheoretikers der Neuen Sachlichkeit wie Ernst Jünger oder Erich Kästner.

In vielen der von Ihnen beschriebenen Verbindungen und Beziehungen wird deutlich: Eine oder einer leidet eigentlich immer. Ist dieser große Feldversuch der freien Liebe auch ein Ausleben egoistischer Charaktere?

Unbedingt. Es gibt diese Machos Brecht, Tucholsky, Benn, für die scheint die jeweilige Liebesbeziehung nur die bequemste Form der Materialbeschaffung zu sein. Ja, fast alle der komischen, tragischen, aberwitzigen Liebesgeschichten, über die ich schreibe, sind Zweckbündnisse auf Zeit – mit dem Notausgang direkt neben dem Doppelbett.

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Woher kommen diese Bindungsprobleme?

Die Männer der Boheme sind nach dem Schock des Ersten Weltkriegs und dessen körperlichen und seelischen Verwüstungen gebrochene, mindestens melancholische, wenn nicht depressive Vertreter ihres einst starken Geschlechts: Erich Maria Remarque etwa, Gottfried Benn, Ernst Ludwig Kirchner – und diese geschwächten Herren werden herausgefordert von einer neuen Generation von Frauen, die eine neue Unabhängigkeit leben –, die wählen dürfen, arbeiten, die finanziell auf eigenen Beinen stehen und die im wahrsten Sinne des Wortes die Hosen anhaben. Und die Verlage, die Zeitschriften haben plötzlich genauso viele Fotografinnen wie Fotografen, Journalistinnen wie Journalisten, Autorinnen wie Autoren. All das macht die Herzens­angelegenheiten komplizierter – viele Männer fühlen sich den neuen starken Frauen nicht gewachsen, sie merken, dass sie eigentlich nicht mehr gebraucht werden. Es ist ein hoch­interessanter Feldversuch, der da um 1930 in Deutschlands Boheme gelebt wird.

Und genau das ist der Ansatz meines Buches: Weltgeschichte als Liebesgeschichte zu erzählen.

Welche Folgen hat das?

Dramatische – parallel zur politischen Lage, wo die Dinge ins Rutschen geraten, mit Weltwirtschafts­krise, Straßen­schlachten und einem immer offeneren Antisemitismus gibt es auch eine ganz neue, offene Gefechts­stellung auf dem Schlacht­feld der Liebe. Und genau das ist der Ansatz meines Buches: Welt­geschichte als Liebes­geschichte zu erzählen, zu beschreiben, wie in den Seelen und Herz­kammern der Menschen die Erschütterungen der Zeit nachhallen.

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Wir diskutieren ja heute viel über neue Geschlechter­bilder, über Sexualität, über das Verhältnis von Mann und Frau. Wenn man in die Zeit blickt, die Sie beschreiben: Das ist alles nicht neu, oder?

Nein, und ich würde vor allem sagen, dass damals sehr viel weniger theoretisiert und sehr viel mehr praktiziert wurde. Das Berlin der frühen Dreißigerjahre war europaweit der freizügigste Ort, von überall her kamen Homosexuelle und Bisexuelle, um ihren Leidenschaften nachzugehen – wie wir es etwa aus den Schilderungen Christopher Isherwoods und dem Film „Cabaret“ mit Liza Minnelli kennen.

Ist die Zeit uns also nah oder fern?

Sehr nah. Wir fühlen uns, seit wir in den Zwanzigerjahren leben, denen des vergangenen Jahrhunderts sehr verbunden. Vor allem durch die Serie „Babylon Berlin“ wurde eine neue, andere Neugier auf diese Vergangenheit geweckt, in diesem Herbst gerade auch mit großen Kinofilmen wie „Fabian“ oder der „Schachnovelle“. Die Autorinnen Vicki Baum, Ga­briele Tergit und Ruth Landshoff, die Malerin Lotte Laserstein, die Fotografin Marianne Breslauer werden endlich wiederentdeckt. Ich habe gerade das Gefühl: Alle elf Sekunden verliebt sich ein Zeitgenosse in die Vergangenheit. Die späten Zwanziger und frühen Dreißiger werden offenbar zu einer Spiegelzeit für uns, wir erkennen uns darin, ungläubig und sehnsüchtig, wieder.

Was sehen wir in diesem Spiegel?

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Erst einmal: Wir sehnen uns nach einer Zeit, die selbst gar keine Sehnsucht kannte, die im Hier und Jetzt lebte, die nichts mehr wissen wollte von der Vergangenheit – und Angst hatte vor der Zukunft. Der kleine Rausch als großer Trost. Aber man muss immer mitdenken – gerade das Libertäre, das Wilde dieser späten Weimarer Republik war es auch, das die Nationalsozialisten in ihrer besenreinen Moral auf die Barrikaden brachte. Und das ihnen half, kleinbürgerliche Kreise hinter sich zu bringen mit ihrem Wettern gegen den Verfall der Sitten und der Moral. Das Private wurde hier erstmals politisch.

Und zum anderen?

Kann man gar nicht glauben, wie weit Deutschland gesellschaftlich um 1930 war – und wie groß der Rückschritt dann in den 1950er-Jahren wurde. Nach dem Bankrott des Staates, der Moral und der Utopien gab es in den Beziehungen offenbar einen Rückfall in stabile Rollenmuster, Adenauers „Keine Experimente“ stand auch an der Schlafzimmertür.

Können wir etwas aus der Geschichte lernen?

Ja – und zwar die Art, wie wir auf unsere Gegenwart schauen sollten. Es geht mir in meinen Büchern, erst in „1913“ und jetzt in „Liebe in Zeiten des Hasses“ immer darum, mich mit Haut und Haaren in die Geschichte hineinzustürzen. Ich lese dann jahrelang alles aus dieser Zeit, also aus den Jahren 1929 bis 1939. Tagebücher, Briefe, Zeitschriften, Zeitungen, schaue mir alte Fotos an und Bilder, um ein Gefühl zu bekommen, was es damals bedeutete, Zeitgenosse zu sein. Und dann schreibe ich aus diesem Gefühl – und aus dieser Zeit heraus: Geschichte als Gegenwart, der Stil ist Präsens. Das heißt, sich der fundamentalen Ungewissheit jener Jahre auszusetzen – denn niemand wusste damals, dass die Weimarer Republik mit dieser Vollbremsung enden würde, niemand, dass die Dreißigerjahre in den verheerendsten Krieg der Menschheitsgeschichte münden würden. Darum auch in den späten Zwanzigerjahren dieser Ausbruch an trotziger Vitalität, an Wildheit, an Experimentierlust und Gegenwarts­besessenheit. Und dann diese Angst, diese Verzagtheit, dieses Spüren der Tiefe der Liebe jenseits der Untiefen der Lust. Und dabei möchte ich meine Leserinnen und Leser mitnehmen, mit ihnen durch dieses unbekannte Gelände gehen, spüren, wo es lodert und wo die Erde zu beben beginnt.

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Autor Florian Illies mit seinem aktuellen Roman „Liebe in Zeiten des Hasses“.

Autor Florian Illies mit seinem aktuellen Roman „Liebe in Zeiten des Hasses“.

Ihr Rückblick ist – Sie haben es bereits erwähnt – stark von den politischen Veränderungen dieser Zeit geprägt. Welche neuen Einblicke verspricht Ihre Perspektive?

Robert Musil sagt in jenen Jahren: Weltgeschichte ist immer mindestens zur Hälfte Liebesgeschichte – und genau von dieser Hälfte erzähle ich. Denn indem ich auf die elementaren Gefühle der Menschen in jenen dramatischen Jahren schaue, auf ihre Sehnsucht, ihre Leidenschaft und ihre Angst, kann ich eine andere Geschichte der Dreißigerjahre erzählen – die Seele also als Echoraum der großen Politik.

Was wir in Ihrem Buch auch beobachten können: Je näher wir an 1933 kommen, desto attraktiver wird die Ehe. Suchten die Liebenden einen sicheren Hafen?

Ja – wenn die politischen Wellen immer höherschlagen, die Ungewissheit und der Sturm zunehmen, dann klammern sich viele an den Ehering wie einen Rettungsring. Wir müssen uns das noch mal vor Augen führen, wie Deutschland und vor allem Berlin ab 1930 von berstenden innenpolitischen Spannungen bestimmt sind, Straßenkampf zwischen Kommunisten und National­sozialisten, publizistische Kämpfe in den Tages­zeitungen. Und in diesem Klima trainieren die National­sozialisten nicht nur ihre Muskeln, sondern auch ihre Techniken der Verführung. Die Ehe scheint wie ein hilfloser Versuch, eine traditionelle Form gegen die alle Formen sprengende Gegenwart zu setzen. Auch Erika Mann und Gustav Gründgens und zahllose andere berühmte Homosexuelle jener Jahre heiraten. Hinzu kommt – es gibt keine unschuldige Liebe mehr. Wer eine Jüdin liebt, wer einen Franzosen liebt, wer Hand in Hand mit einem homosexuellen Partner durch die Straßen läuft – der wird immer mehr mit Hetze und Hass konfrontiert.

Im Jahr 1929 geraten die Dinge nachhaltig ins Rutschen.

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Sie haben betont, dass das Klima des Hasses schon vor 1933 zu spüren ist. Beschreiben Sie eine Übergangszeit?

Das ist für mich ein wichtiger Punkt. In meinen Beschreibungen der Liebes­geschichten und der Erschütterungen von außen, denen sie ausgesetzt sind, versuche ich zu zeigen, dass die „Goldenen Zwanziger“ spätestens 1929 enden. Ja, im Jahr 1929 geraten die Dinge nachhaltig ins Rutschen, Josephine Baker, die afroamerikanische Nackt­tänzerin, die 1925 europaweit gefeiert wird, wird 1929 in Berlin von der Bühne gepfiffen, die Zeitungen empören sich, dass deutsche Frauen mit einem „Halbaffen“ auftreten müssen. Die Zeiten des Hasses beginnen nicht erst 1933.

Welche Parallelen sehen Sie zu unserer heutigen Gegenwart?

Ich sehe, dass der Buchtitel „Liebe in Zeiten des Hasses“ überall auch als Kommentar zu unserer Jetztzeit gelesen wird. Und es stimmt leider: So viel Häme und Hetze, wie wir zurzeit in den öffentlichen Diskussionen erleben, das ist verstörend – egal ob es um Corona-Maßnahmen, um veganes Essen oder um Gender­sprache geht. Es bricht sich sehr viel Wut Bahn, es geht nicht mehr um Argumente, nur um Terraingewinne. Gerade wegen dieser Parallelität zu der Polarisierung der Gesellschaft um 1930 ist die heimliche Sehnsucht unserer Zeit nach dieser Vergangenheit besonders irritierend. Aber ich hoffe, dass genau das Eintauchen in die Konfliktlinien der Geschichte uns helfen kann, unseren diagnostischen Blick für die Gegenwart zu erhöhen.

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Inwiefern?

Wir leben in einer Zeit, in der verstörende Dinge geschehen. In der Menschen niedergeschossen werden, weil sie einen Kunden auffordern, eine Maske zu tragen, in der Impftermine unter Polizeischutz stattfinden und in der wir im Internet Ausbrüche von menschenverachtendem Hass erleben – der tausendfach gelikt wird. Wenn ich über den wuchernden Antisemitismus in den Jahren um 1930 erzähle, dann tue ich das in einem Jahr, also 2021, in dem es so viele antisemitische Straftaten gegeben hat wie niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Wir sollten hellwach bleiben, wenn wir merken, wenn das moralische Wertesystem unserer Gesellschaft in Gefahr ist. Wir sollten uns neu auf die Geschichte einlassen, um zu erfahren, wie offen, wie widersprüchlich sie immer war. Wir können von den großen Liebespaaren lernen, was es heißt, mit emotionalen Klimastürzen umzugehen und mit großen Bedrohungen von außen. Denn auch davon erzähle ich: wie die Kraft der Liebe Menschen zusammenschweißen kann, auch in der größten Angst, in der Flucht ins Exil. Geschichte kann nicht nur aufrütteln und verstören, sie kann auch trösten.

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