Ein Land zeigt Klasse

Warum die Herkunft heute immer noch entscheidend ist

Schritt für Schritt ist Deutschlands Bildungssystem zuletzt besser geworden. Doch viele Jugendliche bleiben nach wie vor abgehängt.

Gute Noten verhelfen zum sozialen Aufstieg? Der Glaube daran erweist sich oft als falsch.

Hannover. Es ist knapp 60 Jahre her, doch heute – zumindest in weiten Teilen West- und Mitteleuropas – wäre so etwas kaum noch vorstellbar. „Das Arbeitsleben meiner Mutter beginnt mit zwölf“, schreibt die Journalistin und Autorin Marlen Hobrack. Jetzt, mit Ende 60, arbeite die Mutter immer noch. Mit viel Fleiß und beeindruckender Resilienz habe sie sich in die Mittelschicht hochgearbeitet, wurde nach der Wende sogar verbeamtet. „Und kehrte schließlich dorthin zurück, wo sie herkam: in die Arbeiterklasse. Seit ihrer Pensionierung arbeitet sie als Putzfrau.“

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Die Autorin, geboren 1986 in Bautzen, erkundet die (Arbeits-)Biografie ihrer Mutter, das Leben einer Frau aus sogenannten schwierigen Verhältnissen in der DDR. „Klassenbeste“ heißt das gerade erschienene Buch, im Untertitel „Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet“ (Verlag Hanser Berlin). Das Buch reiht sich ein in eine ganze Reihe von Veröffentlichungen, in denen Autoren und Autorinnen beschreiben, wie die Herkunft aus „kleinen Verhältnissen“ sie prägte. „Ich stamme aus einem bildungsfernen Elternhaus“, lautet Hobracks erster Satz. Und der steht so oder so ähnlich in zahlreichen, oft autobiografisch geprägten Texten der vergangenen Jahre.

Etwa in Didier Eribons 2016 auf Deutsch erschienenem Bestseller „Rückkehr nach Reims“, in dem der französische Journalist und Soziologe schildert, wie er durch Studium und akademischen Erfolg sich von seiner Herkunft als Sohn eines Fabrikarbeiters und einer Putzfrau entfernte – und wie und warum seine Familie, ehemals Wähler der Kommunistischen Partei, zu Anhängern des rechtsextremen Front National, dem Vorgänger des heutigen Rassemblement National, wurde. Ähnlich wie bei seinem 40 Jahre jüngeren Landsmann Édouard Louis („Das Ende von Eddy“, „Die Freiheit einer Frau“) ging es bei der Befreiung aus prekären Verhältnissen bei dem 69-jährigen Eribon auch darum, Homophobie und Gewalt hinter sich zu lassen.

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Was Eribon, Louis und deutsche Autoren und Autorinnen wie Hobrack, Christian Baron oder Daniela Dröscher eint, ist: Sie verstehen und beschreiben sich als Angehörige einer Klasse – und zeigen das oft schon im Buchtitel. Barons Buch heißt „Ein Mann seiner Klasse“, Dröschers „Zeige deine Klasse: Die Geschichte meiner sozialen Herkunft“. Diese Herkunft ist auch ein wichtiger Aspekt in ihrem aktuellen Roman „Lügen über meine Mutter“, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht.

Lange schien der Klassenbegriff in der Bundesrepublik obsolet zu sein. In den Fünfzigerjahren hatte der westdeutsche Soziologe Helmut Schelsky den Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft geprägt – Angehörigen aus allen Schichten, so Schelsky, sei Aufstieg und Wohlstand möglich, die Gegensätze zwischen arm und reich milderten sich ab. Die Bezeichnung Schicht stand für die Idee von Dynamik und Eigenverantwortlichkeit, und das Wort wurde auch in Abgrenzung zum Klassenbegriff marxistischer Prägung, wie er in der DDR gepflegt wurde, benutzt.

Heute wird der Begriff Klasse wieder oft gebraucht. „Meines Erachtens hängt die neue Popularität mit der weit verbreiteten Erfahrung zusammen, dass sozioökonomische Ungleichheit einen immensen Einfluss auf Arbeitsrealitäten und Lebenschancen hat“, sagt die Göttinger Soziologieprofessorin Nicole Mayer-Ahuja und fragt: „Wer würde nach fast 40 Jahren der Prekarisierung von Beschäftigung noch behaupten, dass wir in einer ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘ leben?“ Dass es enorme Unterschiede zwischen Kapital und Arbeit gebe, würde laut der Soziologin kaum jemand leugnen. Das sei in der Pandemie deutlich geworden, die viele Unternehmen recht gut überstanden hätten, während viele abhängig Beschäftigte noch sehr lang Schulden abbezahlen würden, die sie durch plötzlichen Jobverlust oder durch Einbußen bei Kurzarbeit angehäuft haben. „Die Armutsquote hat einen historischen Höchststand erreicht, und Ähnliches gilt für die Zahl der Millionäre und Milliardäre in Deutschland“, sagt Mayer-Ahuja, die gemeinsam mit ihrem Baseler Kollegen Oliver Nachtwey im vergangenen Jahr das Buch „Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft“ (Suhrkamp-Verlag) herausgegeben hat.

Das Aufstiegsversprechen früherer Jahrzehnte – Wer in Schule und Beruf schön fleißig ist, wird es nach oben schaffen – lässt sich nur noch selten halten. Wobei, so Mayer-Ahuja, in den 1950er- und 1960er-Jahren viele Arbeitende durchaus Anlass zu der Hoffnung hatten, dass es ihnen gelingen würde, durch harte Arbeit und hohe Leistung immer besser zu verdienen, immer mehr konsumieren zu können und für sich oder zumindest für die eigenen Kinder mehr Bildungs- und Aufstiegsoptionen zu verwirklichen.

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Heute hingegen erleben viele, wie stark ihre Optionen beschnitten sind, und manche beschreiben das in ihren Büchern. Als Klassismus bezeichnet man es seit einiger Zeit, wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt werden. Die Göttinger Soziologin sieht den Begriff durchaus ambivalent. Einerseits nimmt er soziale Ungleichheit in den Blick. Und auch „Diskriminierung, die normalerweise in Deutschland kaum thematisiert wird (selbst in Art. 3 des Grundgesetzes fehlt sie), weil Klasse über viele Jahrzehnte der ‚Elefant im Raum‘ war“. Andererseits führe „der Fokus auf Diskriminierungserfahrung manchmal – wie bei anderen -ismen auch“ – dazu, dass die „verletzende Sprache“ betont wird: „Es ist sicher gut, ändert jedoch erst einmal wenig an den Strukturen von Klassendiskriminierung, wenn man Menschen nicht länger als ‚Proll‘ beschimpft“, sagt Mayer-Ahuja.

Erhält den Literaturnobelpreis 2022: Die französische Autorin Annie Ernaux schildert in ihren Büchern, wie ihre Herkunft sie prägt.

Erhält den Literaturnobelpreis 2022: Die französische Autorin Annie Ernaux schildert in ihren Büchern, wie ihre Herkunft sie prägt.

In den neuen Veröffentlichungen geht es nicht nur um Diskriminierung, sondern auch um den Aufstieg, der den Autoren und Autorinnen gelungen ist – und der, so Marlen Hobrack in „Klassenbeste“, oft mit „Entfremdung vom Herkunftsmilieu, der eigenen Familie“ verbunden ist. Darüber schreiben auffällig viele Autoren und Autorinnen in der Ichform, aus Erfahrungen aus der eigenen Familie, mehr oder minder fiktionalisiert.

Manche von ihnen mögen sich Annie Ernaux zum Vorbild genommen haben. Die 82-jährige Französin, die in diesem Jahr den Literaturnobelpreis erhält, beschreibt schonungslos wie kaum eine andere, was sozialer Aufstieg eben auch bedeuten kann: Entfremdung von den Eltern, Scham für seine Herkunft und oft genug auch Scham, weil man die Codes der „Bessergestellten“, der „höheren“ Klasse doch nicht ganz begreift und beherrscht. Es bleiben, wie es der Soziologe Pierre Bourdieu genannt hat, „feine Unterschiede“.

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