Gesetzeslücke macht’s möglich

Wundersamer Kraftzuwachs: Wie beim E-Motorrad aus 11 kW plötzlich 59 PS werden

Auch ohne speziellen Motorradführerschein können Pkw-Fahrende einige Bikes legal fahren.

Auch ohne speziellen Motorradführerschein können Pkw-Fahrende einige Bikes legal fahren.

Das Segment der Motorräder mit 125-ccm-Verbrennungsmotor boomt. Die Erweiterung B196 des Autoführerscheins hat seit 2020 ein Klientel aufs motorisierte Zweirad gebracht, das bisher mit dem Thema Motorrad kaum Berührungspunkte hatte. Seitdem aber ein Mindestalter von 25 Jahren, fünf Jahre Fahrpraxis sowie wenige Unterrichtsstunden ausreichen, um die Fahrerlaubnis auch fürs Motorrad zu bekommen, steigt mancher Autofahrer für kürzere Strecken, etwa zur Arbeit, schon aus Kostengründen aufs Zweirad um.

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Bis zu 125 ccm und elf Kilowatt (15 PS) erlaubt der Gesetzgeber beim Bike mit Verbrennungsmotor, was eine Höchstgeschwindigkeit von rund 100 km/h bis 110 km/h ermöglicht – je nach Hersteller. Für Stadt und Landstraße reicht das allemal aus, auf der Autobahn aber wird nicht nur der Bike-Novize rasch zum Verkehrshindernis.

Wer dem entgehen und mehr Leistung will, der bräuchte eben doch mindestens den Motorradführerschein A2 (Motorräder bis 35 kW) – oder ein Elektromotorrad nach B196. Was zunächst absurd klingt – warum sollte ein Elektromotorrad mit elf Kilowatt deutlich schneller sein als ein gleichstarker Verbrenner? – , ist wegen einer Lücke im sonst so undurchdringlichen Paragrafendschungel deutscher Gesetze und Verordnungen längst Realität. So ignoriert die Fahrerlaubnisverordnung (FEV) das Elektromotorrad per se schlichtweg, während die deutsche Fahrzeug-Zulassungsverordnung (FZV) als Voraussetzung für B196 eine „Nennleistung von nicht mehr als elf Kilowatt“ ausweist – und damit, ob gewollt oder nicht, in erster Linie die Verbrennervariante meint.

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Schlüsselwort „Nennleistung“

„Nennleistung“ (auch Nenndauerleistung) – das ist hier das Schlüsselwort. „Die Nennleistung eines Verbrenners meint das maximale Drehmoment und die Höchstleistung bei voll geöffneter Drosselklappe“, dozierte kürzlich „Motorrad“ unter der plakativen Überschrift „Kleiner Schein mit mächtig Elektro-Bumms“. Beim Elektromotor allerdings sei das anders: Hier definiere sich die Nennleistung als die mittlere Leistung, die der Motor bei der vom Hersteller genannten Drehzahl über die Dauer von 30 Minuten leisten könne, nachdem er bereits drei Minuten bei 80 Prozent der Höchstleistung gelaufen sei, so das Fachblatt. Die Drehzahl müsse dann mindestens 90 Prozent der Drehzahl der Höchstleistung entsprechen.

Für den Laien, der in Sachen Verbrenner- und/oder Elektromotor bestenfalls rudimentäre Kenntnisse vorweisen kann, mag das zunächst kryptisch klingen. In letzter Konsequenz aber bedeutet es nichts anderes, als dass ein Motorrad mit Elektromotor im Betrieb zeitweise deutlich mehr leisten darf als die bereits genannten elf Kilowatt, die der Verbrennervariante zugestanden werden. Wie und warum, das weiß Herbert Hopp. „Beim Verbrenner steigt das Drehmoment, also die Kraft, die der Motor abgibt, mit der Drehzahl, und erreicht irgendwann schließlich das Maximum.“ Beim Elektromotor aber liege dieses Maximum genau genommen vom ersten Augenblick an vor, wie die oft extremen Beschleunigungswerte von Elektrofahrzeugen per se zeigen, so der Motorradexperte und Fahrtrainer beim Auto Club Europa (ACE).

Zero S: in 4,5 Sekunden von 0 auf 100 km/h

Ein eindrückliches Beispiel für ein Elektromotorrad, das den B196-Paragrafen letztlich aushebelt, ist das Modell S von Zero. Das Naked Bike des amerikanischen Elektromotorradherstellers, der als Elektropionier und „Tesla unter den Elektrobike-Anbietern“ gilt, weist, wie ein 125er, zunächst eine Nenndauerleistung von zahmen elf Kilowatt aus, also ganz so wie es B196 vorsieht. Tatsächlich aber ist die Zero in der Lage, bis zu 59 PS und damit beinahe viermal so viel wie eine klassische 125er von zum Beispiel KTM oder Yamaha zur Verfügung zu stellen. Im Gegensatz zum Verbrenner kann der Elektromotor diese Spitzenleistung allerdings nur über einen kürzeren Zeitraum halten, da er sonst zu heiß würde. Also hat der Gesetzgeber entschieden, dass nicht die Spitzen-, sondern die Nenndauerleistung das ausschlaggebende Kriterium ist.

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Klar, dass die Hersteller diese halbgare Regelung für sich zu nutzen wissen. So bewarb Zero seine Elf-Kilowatt-Bikes vor einiger Zeit noch ganz offensiv mit dem Slogan „11 kW. Großer Fahrspaß – anderer Führerschein“, wie „Spiegel Online“ im April 2020 berichtete. Weil die Kritik nicht lange auf sich warten ließ, gibt man sich heute zahmer – auf der Homepage. Auf der Straße sieht es aber anders aus. Zwar ist die mit 139 km/h angegebene, höhere Endgeschwindigkeit der Zero S nicht gleich ein Quantensprung, aber doch allemal autobahntauglicher als die 110 km/h einer 125er KTM. Noch deutlich beeindruckender aber ist die immense Beschleunigung. 4,5 Sekunden für den Spurt von 0 auf 100 km/h benötigt die Zero und bewegt sich damit auf Sportwagenniveau. Zum Vergleich: Die durchaus sportlich zu bewegende KTM braucht mit etwa 14 Sekunden mehr als dreimal so lange.

„Eine rein politische Entscheidung“

„Möglich sind solche Beschleunigungswerte, weil ein Elektromotor in der Regel ohne Getriebe auskommt und damit eine unterbrechungsfreie Drehmomentabgabe gewährleistet ist“, erklärt ACE-Experte Hopp. Wohl ist ihm allerdings nicht bei dem Gedanken, dass motorradunerfahrene Piloten, die nicht einmal eine Prüfung ablegen mussten, mit solcher Urgewalt konfrontiert werden. „Wegen der nahezu sofort anliegenden Leistung schon beim Anfahren besteht beim Elektromotorrad die Gefahr, dass der Fahrer die Kontrolle über die Maschine verliert, und das umso mehr bei nasser und/oder glatter Fahrbahn“, befürchtet er.

Warum der Gesetzgeber dieses Gefahrenpotenzial auch nach zwei Jahren nicht sieht – oder nicht sehen will –, das vermag Hopp nur zu vermuten. „Man will die Elektromobilität unbedingt fördern, und da sieht der Umstieg vom Auto mit Benzinmotor auf ein elektrisch betriebenes Motorrad natürlich besser aus als der von einem Verbrenner auf den anderen.“ Letztlich sei das Festhalten an B196 in der aktuellen Form wohl eine rein politische Entscheidung. „Und das halte ich für sehr fragwürdig“, fügt er hinzu. Ganz ähnlich sah es „Spiegel Online“ auch. „Elektrischer Schleudersitz“, so lautete damals der Titel.

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