Warum „Spotify Wrapped“ so erfolgreich ist – und warum uns das zu denken geben sollte
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„Wrapped“, der Jahresrückblick des Musikstreamingdienstes Spotify, teilt sich jedes Jahr millionenfach in den sozialen Netzwerken.
© Quelle: Getty Images for Spotify
Hannover. Wissen Sie, wie oft Sie in diesem Jahr Klopapier eingekauft haben? Ich auch nicht. Aber meine Einkaufslisten-App weiß es. Die hat mir vergangene Woche ungefragt und ein bisschen unerwartet einen ganz persönlichen Jahresrückblick per E‑Mail zugeschickt.
Darauf sind – unterlegt von bunten Luftschlangen, Zuckerstangen und Bildern von Glücksschweinchen – allerhand Statistiken zu lesen, die aus meiner Benutzung der App im Jahr 2022 hervorgehen. Etwa, dass ich im Schnitt 18 Lebensmittelartikel im Monat gekauft haben soll. Oder dass ich mit der Liste durchschnittlich 100 Euro für unnötige Einkäufe eingespart habe. Und dass ich 5377 Bäume gerettet habe, weil ich statt Papiereinkaufszetteln die App verwendet habe.
Des Weiteren schlägt mir die App anhand meiner Daten ein tolles Rezept vor, das ich doch mal ausprobieren solle: Ein Caprese-Auflauf mit Gnocchi, Mozzarella, Parmesan und Tomaten – es passt offenbar zu meinen Einkäufen. Und der Jahresrückblick zeigt auch ein Ranking der Produkte, die ich in diesem Jahr eingekauft beziehungsweise auf die Einkaufsliste gesetzt habe. Ich erspare Ihnen die Details zum Klopapier.
Soll meine App tracken, was ich einkaufe?
Ein bisschen überrascht hat mich das alles schon. Natürlich weiß ich, dass ich mit allem, was ich im Internet tue, auch Datenspuren hinterlasse. Dass meine Einkaufslisten-App aber gezielt meine Einkäufe trackt und abspeichert, um sie mir am Ende des Jahres in einem bunten Rückblick zu präsentieren, gibt mir trotzdem irgendwie zu denken. Denn eigentlich geht die das gar nichts an.
Und: Meine Einkaufslisten-App ist bei Weitem nicht die einzige, die das tut. Alle möglichen Websites und Programme liefern zum Ende des Jahres ganz persönliche Datenerhebungen an ihre Nutzerinnen und Nutzer aus.
Und je privater die darin enthaltenden Informationen werden, desto eher drängt sich die Frage auf: Muss das eigentlich sein? Und wollen wir das wirklich?
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Der Hype um „Spotify Wrapped“
Hinter dem Hype steckt eine Geschichte – und sie beginnt mit „Wrapped“. Dabei handelt es sich um den Jahresrückblick der Musikstreaming-App Spotify. Erstmals 2015 verschickt Spotify einen solchen, damals noch unter dem Namen „Year in Music“.
Heute ist der Hype um „Wrapped“ so groß, dass kaum noch jemand drum herumkommt, die bunten Datenbildchen seiner persönlichen Musikstatistik in seiner Instagram-Story zu teilen – und offenbar kaum eine App kann es sich leisten, noch auf einen eigenen Jahresrückblick zu verzichten.
Die Idee zu „Spotify Wrapped“ entstand offenbar durch Zufall. Alex Bodman, Vice President und Global Executive Creative Director bei Spotify, sagte einmal dem Magazin „Variety“, dass ein paar kluge Köpfe des Streamingdienstes zusammengesessen hätten. Dann sei die Frage aufgekommen: „Hey, wir haben diese Daten. Könnte das jemanden interessieren?“
Bunte Kacheln für Instagram
Tut es. 2015 zeigt das schwedische Unternehmen erstmals auf einer bunten, extra eingerichteten Seite eine ganz persönliche Jahresanalyse, auf jeden Musikfan individuell zugeschnitten, hübsch aufbereitet auf pink-blauen Kacheln – und erhoben aus Nutzungsdaten.
„Du hast 45.000 Minuten Musik gehört“, ist da etwa zu lesen. Oder: „Du hast 1385 verschiedene Tracks gehört, das sind 73 mehr als vergangenes Jahr.“ Zudem generiert Spotify die ganz persönlichen Toptracks – und eine personalisierte Playlist mit dem Namen „Play it Forward“ gibt es gleich dazu. Die Statistiken lassen sich direkt in den sozialen Netzwerken teilen.
Die bunte Datenaufbereitung kommt so gut an, dass die Social-Media-Kacheln mit den aufbereiteten Statistiken rund eine Million Mal in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Und der Erfolg ist so riesig, dass der Streamingdienst das Spektakel im folgenden Jahr wiederholt. Nun heißt der Spotify-Jahresrückblick „Wrapped“.
60 Millionen Shares
Im Jahr 2020 verzeichnet die Aktion über 60 Millionen Shares von 90 Millionen Nutzerinnen und Nutzern in den sozialen Netzwerken. Und darin ist nur eingerechnet, was Spotify selbst messen kann – die geteilten Screenshots kann das Unternehmen nicht verfolgen.
Seit 2018 gibt es „Spotify Wrapped“ nicht nur für Musikhörerinnen und ‑hörer, sondern auch für Artists. In der hauseigenen Künstler-App lassen sich Statistikgrafiken erstellen, die Aufschluss darüber geben, in wie vielen Ländern die eigene Musik gehört wurde und wie oft Songs gestreamt wurden. Selbst große Bands wie BTS und Maroon 5 machen mit und teilen fröhlich ihre Statistiken. Sogar eigene Dankesvideos für die Spotify-App werden mittlerweile aufgenommen.
Inzwischen liefert Spotify sogar die Deutung der gesammelten Daten gleich mit. Ich sei ein „Nomade“, heißt es etwa im aktuellsten Jahresrückblick. Ich entdecke gern Neues, aber wenn mir etwas gefalle, höre ich es immer wieder an, „wie musikalisches Souvenir“. Ich weiß nicht, ob das überhaupt stimmt. Aber: All das ist die nahezu perfekte Marketingaktion.
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Ein bisschen Selbstdarstellung
Warum ist „Spotify Wrapped“ so erfolgreich? Weil es „das Bedürfnis der Selbstdarstellung bedient“, sagt Stephan Schöneberg, Client Service Director bei der Agentur Jung von Matt Impact, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Hier kann ich als User zur Schau stellen, was unterjährig verborgen bleibt – zum Beispiel meinen besonders erlesenen Musikgeschmack oder auch meine musikalischen ‚guilty pleasures‘“, so der Werbe- und Marketingexperte.
Andererseits reihe sich „Spotify Wrapped“ aber auch in den großen Trend der Selbstanalyse-Tools ein. Davon gibt es inzwischen unzählige: „Ob Fitness-Tracker, Einkaufs- oder Banking-App – durch Jahresrückblicke erhalte ich als Nutzer gewissermaßen eine Vogelperspektive auf mich selbst.“
Das Konzept geht auf: In den ersten Tagen des Dezembers teilen sich die quietschbunten, personalisierten Musikkacheln millionenfach bei Instagram oder Twitter. Und ganz nebenbei machen die Musikfans kostenlos Werbung für den Streamingdienst. Schöneberg spricht von einer „gigantischen unbezahlten Reichweite“ für das Unternehmen. „Das trägt letztlich zur weiteren Steigerung der Markenbekanntheit bei und ist letztlich auch bei der Gewinnung neuer Nutzer bzw. der Steigerung der Nutzungsintensität bei bestehenden Nutzern hilfreich.“
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Marketingaktion mit „Fomo-Effekt“
Nicht nur das: Es setzt Spotify auch gegenüber Konkurrenzplattformen ab. Denn „Wrapped“ ärgert Jahr für Jahr vor allem diejenigen, die sich für den Musikgenuss Konkurrenzprodukte wie Apple Music, Tidal oder Youtube Music ausgesucht haben. Sie lieferten solche Jahresrückblicke lange Zeit gar nicht – oder nur solche, die kaum aussagekräftig sind.
Spotifys Marketingabteilung selbst hat den Erfolg einmal als „Fomo-Effekt“ bezeichnet, die Abkürzung für „Fear of missing out“. Nutzerinnen und Nutzer hätten Angst, etwas zu verpassen – daher zöge es sie zum Streamingdienst, um Ende des Jahres ebenfalls eine der berühmten Kacheln mit ihren Freunden teilen zu können.
Erstaunlich ist dieser Erfolg, weil all diese bunten Bildchen aus einer Vielzahl von Daten bestehen, die der Streamingdienst das gesamte Jahr, rund um die Uhr von jeder einzelnen Nutzerin, von jedem einzelnen Nutzer erhebt. Selbst der kleinste Fehltritt im Musikgeschmack bleibt ihm nicht verborgen, alles wird gnadenlos dokumentiert. Eigentlich wäre das ein Grund, die Nutzung des Dienstes und seine Datensammelwut zu hinterfragen – das tut aber kaum jemand. Das quietschbunte „Spotify Wrapped“ macht einfach zu viel Spaß.
Überall Jahresrückblicke
Und der Datenhype hat Folgen. Auch andere Musikstreamingdienste beginnen mit der Zeit, personalisierte Rückblicke an ihre Nutzerinnen und Nutzer auszuspielen. Die meisten von ihnen sind eher mittelmäßig umgesetzt: Apple Music etwa leitet seine Nutzerinnen und Nutzer aus der App auf eine eigene Seite um, auf der man sich zunächst einloggen muss. Am Ende einer mehrteiligen Story namens „Replay“ wird ein teilbares Bild erstellt, welches den meistgehörten Song, den meistgehörten Künstler und das meistgehörte Album zeigt. Spotify zeigt deutlich mehr Daten.
Youtube spielt einen datenbasierten Jahresrückblick an Videomacherinnen und ‑macher aus. Darin ist zu sehen, welches Video die meisten Aufrufe erreicht hat und welcher Monat der erfolgreichste war. Reddit zeigt seinen Nutzerinnen und Nutzern in einem „Recap“, wie lange man durch die App gescrollt hat – und wie oft man in der Zeit hätte zum Mond fliegen können. Nintendo zeigt, welche Spiele Nutzerinnen und Nutzer am meisten gezockt haben.
Die Sprachlern-App Duolingo zeigt an, wie viele Wörter einer Fremdsprache man im Jahr 2022 gelernt hat. In der Sport-App Strava lässt sich auf die persönlichen sportlichen Erfolge des Jahres zurückblicken. Die „Washington Post“ zeigt die beliebtesten Artikel und Autoren an, die ein Leser oder eine Leserin 2022 gelesen hat. Und die Einkaufslisten-App Bring zeigt die Topprodukte, die man in diesem Jahr eingekauft hat – womit wir wieder beim Klopapier wären.
Nicht jede Branche ist geeignet
Was erhoffen sich die Unternehmen davon?
„Das Kalkül hinter den Jahresrückblicken dürfte in allen Apps dem von Spotify ähneln: Ich finde in dem Jahresrückblick etwas, das mich überrascht, begeistert, erschreckt, und teile es mit meinen Freunden in der Hoffnung auf ein Echo“, sagt Stephan Schöneberg.
Das funktioniere aber nicht bei jedem Thema auch gleich gut: „Musik ist als ‚Passion‘-Thema natürlich einer der gesellschaftlich größten gemeinsamen Nenner und damit auch für größte Teile des jeweiligen Freundes- und Bekanntenkreises relevant. Welche ‚Washington Post‘-Artikel ich gelesen habe, dürfte hingegen nur einen Bruchteil interessieren“, so der Experte.
Datenrückblick kann nach hinten losgehen
Doch so groß der Spaß mit den Daten auch sein mag – in manchen Branchen, Stichwort Einkaufs-App, könnte so ein personalisierter Jahresrückblick auch nach hinten losgehen, sagt Schöneberg. Nämlich dann, wenn die Datenverfolgung zu tief ins Private eindringe. „Natürlich ruft das immer auch das Bewusstsein dafür hervor, dass der persönliche digitale Fußabdruck über das gesamte Jahr gesammelt wird“, sagt der Experte.
Nutzerinnen und Nutzer würden stets abwägen, welche Vorteile ihnen eine App biete – also etwa die Bequemlichkeit einer digitalen und teilbaren Einkaufsliste. Aber auch die Nachteile, nämlich die Verfolgung des Einkaufsverhaltens mithilfe von Daten. Am Ende entscheide das persönliche Datenschutzempfinden einer Kundin oder eines Kunden, ob er das mit sich machen lasse oder nicht.
Ich selbst werde meine Einkaufslisten-App wahrscheinlich auch weiterhin nutzen – trotz Datensammelwut. Die Bequemlichkeit hat gesiegt. Trotzdem: Ab jetzt fühle ich mich beim Einkaufen beobachtet. Der Jahresrückblick 2023 kommt bestimmt.