Weltgedenktag verstorbener Kinder in Wolfsburg: Mutter berichtet von ihrem Abschied

Leander lebte eine Stunde, diese eine Stunde verbrachte er in den Armen seiner Mutter. Dann hörte er auf zu atmen. Leander ist der Sohn von Andrea (44) und Bernd Linnecke (54). Vor zwei Jahren kam er im Wolfsburger Klinikum zur Welt, mehr als vier Monate zu früh. Er hatte kaum eine Chance zu überleben. „Dabei war es zuerst eine normale Schwangerschaft bis sich im fünften Monat der Muttermund öffnete“, berichtet Andrea Linnecke. Sie wurde notoperiert. Drei Wochen später, am 10. März 2018, kam Leander zu Welt. Eine Nacht durfte er bei seiner Familie verbringen, „dann wurde er abgeholt“, sagt seine Mutter. Am 13. Dezember, dem Weltgedenktag verstorbener Kinder, zündet sie gemeinsam mit ihrer Familie eine Kerze für Leander an. Mutter: Das war die schwerste Entscheidung unseres Lebens: Wenn Andrea Linnecke heute an ihren verstorben Sohn denkt, überfallen sie Selbstzweifel und Trauer, aber auch Momente der Dankbarkeit. Als sie zum zweiten Mal ins Krankenhaus eingeliefert wurde, führten Ärzte mit ihr und ihrem Mann Gespräche. „Wir hatten uns für das Wolfsburger Krankenhaus entschieden, weil es dort eine Intensivstation für Frühgeborene gibt“, erzählt Andrea Linnecke, die mit ihrer Familie im Landkreis Gifhorn wohnt. „Die Ärzte fragten uns, ob unser Sohn nach der Geburt palliativ behandelt werden soll“, sagt die Mutter, „später war das die schwerste Entscheidung unseres Lebens, aber er war noch so klein und seine Atmung sehr, sehr schwach“. Hinter Andrea Linnecke lagen zuvor Wochen voller Hoffnung, dass ihr Sohn doch gesund zur Welt kommen würde – und endlose Strapazen. Als sie im Februar 2018 das zweite Mal ins Krankenhaus eingewiesen wurde, musste sie absolute Bettruhe einhalten. „Zähne putzen, Essen und der Toilettengang – alles fand im Bett statt“, sagt die 44-Jährige. Wochenlang starrte sie die Decke an, ihre Gedanken kreisten, sie versuchte sich so wenig wie möglich zu bewegen. „Ich dachte, ich mache das jetzt, damit ihm nichts passiert. Ich dachte, wir schaffen das“, sagt die Mutter. „Und ich dachte, was habe ich nur falsch gemacht?“ Dann fing Leander an, sich im Bauch der Mutter stark zu bewegen. „Irgendetwas fühlte sich komisch an. Die Ärztin meinte, es ist soweit, ihr Sohn will auf die Welt kommen. Er hat das entschieden“, erinnert sich Andrea Linnecke, und er kam zur Welt. Eine Stunde nach der Geburt nahm die Familie Abschied von Leander. „Es war traurig und gleichzeitig schön“ erinnert sich die Mutter. „Wir konnten Leander etwas anziehen und ihn im Arm halten“, sagt sie. Ihre Kinder Merle (25), John (15) und Jette (13) verabschiedeten sich von Leander. Seelsorgerin hilft der Familie: „Wir gaben unserem Sohn einen Schmetterling mit und zündeten eine Taufkerze an“, erinnert sich Andrea Linnecke. Unterstützt wurden sie bei ihrem Abschied von Diakonin Heidrun Schäfer. „Dafür sind wir sehr dankbar“, sagt Andrea Linnecke, „über uns war alles zusammen gebrochen, ich wollte niemanden sehen, aber die Gespräche waren wichtig und haben meinem Mann und mir sehr geholfen.“ Der jährlichen Weltgedenktag für verstorbenen Kinder findet immer zweiten Sonntag des Monats Dezember statt. Weltweit werden an diesem Tag, der auch „Worldwide Candle Lighting" genannt wird, Kerzen für die Kinder angezündet. An diesem Tag gedenken Angehörige in der ganzen Welt ihrer verstorbenen Kinder, Enkel und Geschwister. Zahlreiche Institutionen und Vereine laden zu gemeinsamen Gedenkfeiern ein. Die Idee geht auf eine Vereinigung verwaister Eltern und ihrer Angehörigen in den USA, die „Compassionate Friends“, zurück, die diese Initiative 1996 ins Leben riefen. Beerdigt wurde Leander in einem Sternengrab auf dem Wolfsburger Friedhof Sankt Annen. „Wir wollten ihn nicht alleine in einem Grab liegen lassen“, sagt Andrea Linnecke. Im Garten hat die Familie einen Schmetterlingsflieder für Leander gepflanzt. Lesen Sie auch: Abschied von Gregor - Wie Corona einem Vater die Zeit mit seinem Sohn stahl Andrea Linnecke wurde noch einmal schwanger. Manchmal hat sie deswegen ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem verstorbenen Sohn. „Manchmal frage ich mich einfach, warum Leander nicht bei uns ist. Er hat seinen Platz in unserer Familie Lilie gegeben.“ Lilie, die „kleine Blume der Familie“, kam im Mai 2019 zur Welt. „Sie liebt ihr Leben und wir lieben Lilie“. Von Nina Schacht