Telefonseelsorge Wolfsburg: Nachts gehen die meisten Anrufe ein

Wut, Angst, Trauer: In den Gesprächen der Telefonseelsorge werden Gefühle durchlebt. Besonders nachts sind sie stark, rauben Menschen den Schlaf. Doch die Nacht bietet auch Schutz. So auch bei einem älteren Mann, der seine demente Mutter pflegte. Denn: Während seine Mutter schlief, fühlte er sich unbeobachtet. „Der Anrufer wohnte alleine mit ihr zu Hause. Sie wurde aufgrund der Krankheit aggressiv“, berichtet eine Telefonseelsorgerin aus der Wolfsburger Einrichtung. Er war wütend, dass er so behandelt wurde und hatte gleichzeitig Angst davor, dass sie stirbt. Es habe ihm geholfen, dass er über seine Gefühle sprechen durfte, er habe sich etwas von der Seele reden können. Die Nacht verstärkt Panikattacken und Ängste: Um 22 Uhr beginnt die Schicht der ehrenamtlichen Mitarbeiterin. In den kommenden acht Stunden nimmt sie rund um die Uhr Anrufe entgegen. Sie hat schon viele Nachtschichten hinter sich. Seit über 30 Jahren hilft sie Menschen am Telefon. Doch jede Nacht sei neue Herausforderung. Denn, wenn es draußen stock duster ist, bekommen die Anrufe oft eine andere Tiefe. Die Einsamkeit der Betroffenen wird bedrängender, die Schmerzen stärker, Panikattacken nehmen zu. Angst vor Mobbing am Arbeitsplatz, der bevorstehende Arzttermin, Sorgen um die Beziehung - es gibt kaum ein Thema, über das nicht gesprochen wird. Auch über Suizidabsichten sprechen Anrufer. In den frühen Morgenstunden dann suchen Betroffene Hilfe, wie sie den kommenden Tag überstehen können. Die ehrenamtliche Mitarbeiterin versucht zu beruhigen. Sucht, Beziehungen, Mobbing: Die Themen sind vielfältig: Einsamkeit trotz Partnerschaft und Suchtproblematiken sind Themen, genauso wie das verstorbene Haustier. „Ich versuche gemeinsam mit dem Betroffenen einen Weg zu finden, durch die Nacht zu kommen“, sagt die Telefonseelsorgerin. Manchmal helfe schon ein Spaziergang, eine Tasse Tee oder eben einfach das Gespräch mit ihr. Auffällig sei, dass der Umgang der Menschen miteinander rauer geworden sei. „Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz hat zugenommen und auch psychologische Erkrankungen. Und wenn die Therapie nicht hilft, sind wir die letzte Anlaufstelle“, so die Telefonseelsorgerin. Die Mitarbeiterin hofft, dass Menschen den Mut finden, sich bei der Telefonseelsorge zu melden: „Kein Problem ist so klein, dass es nicht besprochen werden könnte. Für einen Anruf bei uns braucht man keine Eintrittskarte. Wir werten nicht.“ 2019 wurden bei der Telefonseelsorge 8658 Gespräche geführt, bei 1840 Gesprächen wurde aufgelegt. Das geht aus dem Jahresbericht der Telefonseelsorge hervor. Die Mitarbeiter beraten auch online: In 2019 waren es 847 Mailkontakte. In 69 Prozent der Mails war Suizid kein Thema, allerdings ging es in 211 Mails um Suizidgedanken. Angeboten wurden von der Telefonseelsorge 154 Chattermine, 35 davon beschäftigten sich mit dem Thema Selbstmord. Die Telefonseelsorge ist unter der Nummer (0800) 111 0 111 zu erreichen. Mit den ehrenamtlichen Mitarbeitern kann man im Internet unter online.telefonseelsorge.de chatten. Das Telefon steht nicht still: Das Telefon klingelt in der Nacht mitunter ununterbrochen, sagt die Telefonseelsorgerin, manchmal nimmt sie sich eine Auszeit, um das Gespräch für sich zu verarbeiten, und um sich auf den nächsten Anruf vorzubereiten. Dann klingelt wieder das Telefon, das Gespräch geht los. Manchmal dauert es eine halbe Stunde, manchmal weit über eine Stunde. Doch, so sagt die Telefonseelsorgerin, wenn sie auflege, werde ihr oft auch bewusst: Der Anrufer ist wieder alleine. Von Nina Schacht