Sturm aufs Kapitol der USA lässt Amerikaner in Wolfsburg zittern

Rund 90 Amerikaner leben in Wolfsburg – und viele von ihnen schauten am Mittwochabend fassungslos auf ihr Handy oder den TV-Bildschirm, auf dem die Stürmung des Kapitols zu sehen war. Die WAZ sprach mit einigen von ihnen – und auch die Politik meldet sich in Wolfsburg zu Wort. Sprachlos und ratlos: Cathy Hortsmann ist in Georgia geboren. Heute lebt die 76-Jährige auf dem Steimker Berg. „Ich bin sprachlos und ratlos. Es ist einfach schrecklich!“, so ihre Reaktion auf die Berichte und Bilder aus Washington. „Diese Menschen sind gefährlich und wir können nur die Daumen drücken, dass nicht mehr passiert“, sagt sie über die Anhänger von Donald Trump, die die Anerkennung der Wahl von Joseph Biden zum neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten durch ihre Proteste behindern, wenn nicht gar verhindern wollten. Lesen Sie auch US-Wahl: Biden-Sieg spielt Volkswagen wohl in die Karten Stimmen aus der Region zum Wahlsieg von Joe Biden – WAZ/AZ-online.de Wahlergebnis in Amerika: Wolfsburger US-Amerikanerinnen blicken mit Spannung in die Heimat Die Stimmabgabe in Georgia mit einer Mehrheit für Bidens Demokraten mache allerdings Mut, findet Renée Mellino (73). Die pensionierte Englischlehrerin telefonierte während der Unruhen mehr als eine Stunden lang mit ihrer Schwester in Wisconsin und konnte erst nach Bekanntgabe dieses Ergebnisses in den Schlaf finden. Die Reaktionen vieler Republikaner auf Trumps Stimmungsmache empfindet sie als „zu spät und zu wenig“. „Das Land ist gespalten“, analysiert sie, „aber nicht in politische Parteien, sondern in das Streben nach Macht und Geld gegenüber dem Streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit.“ Mellino hofft, dass Rückgrat und friedlicher Widerstand gegen antidemokratische Strömungen im Alltag die jetzt so lauten Stimmen wieder zum Schweigen bringt. „Demokratie war lange für uns alle wohl zu selbstverständlich, in Amerika wie auch in Deutschland – dabei hatten wir wohl nur Glück, dass es so lange gut gegangen ist. Aber wenn ich die jungen Leute sehe, Black lives Matter oder die Frauen, die einiges riskieren, dann bin ich zuversichtlich“, sagt sie. „Ein Putsch ist nicht ganz so einfach“, meint auch Dr. Lawrence Guntner. „Und das System hat ja schließlich funktioniert.“ Sorgen macht sich der 79-Jährige dennoch, denn: „Dieser Sturm auf das Kapitol ist lange geplant und vorbereitet worden. Aber wo war der polizeiliche Schutz?!“ Der fehlende Respekt vor so einem „sakralen Ort der Demokratie“ wie dem Sitz des Senats in Washington D.C. erschreckt den promovierten Literaturwissenschaftler. „Demokratie ist wie ein Vertrag –und sie funktioniert nur, wenn die Menschen bereit sind, nach den Spielregeln zu spielen“, mahnt er. Erschüttert von Todesschüssen: Dr. Guntner stammt aus Wisconsin, wo nach den Todesschüssen auf Jacob Blake durch einen Polizisten Unruhen ausgebrochen waren. „Dass dort so etwas passiert und der Schütze danach nicht zur Verantwortung gezogen wird...“ Wie zahlreiche Kommentierende des Kapitol-Sturms glaubt Guntner, dass die Exekutive massiver reagiert hätte, wenn dunkelhäutige Vertreter von Black Lives Matter vor ihnen gestanden hätten. Und auch das bereitet ihm Sorge. Die Dolmetscherin Sarah Vilece bezieht gerade ihr neues Zuhause in Heiligendorf. Die 45-Jährige Biden-Wählerin fand die Versammlung der Trump-Anhänger vor dem Kapitol erst „ziemlich langweilig“ und strich weiter ihre Küche – bis die ersten es schafften, ins Gebäude einzudringen. „Ich habe gezittert! So fangen Bürgerkriege an“, sagt sie. Politiker in Deutschland reagierten größtenteils entsetzt auf die Bilder von der Stürmung des Kapitols in Washington. Wolfsburgs Oberbürgermeister Klaus Mohrs sagt: „Für mich waren das unfassbare Bilder. Ich bin völlig entsetzt, dass es offensichtlich einem amerikanischen Präsidenten gelingt, Teile seiner Anhängerschaft zu solchen Handlungen zu motivieren. Ein schwarzer Tag für die Demokratie, die mit Wahlsiegen und Niederlagen leben muss.“ Seine SPD-Parteikollegin Immacolata Glosemeyer meldet sich als europapolitische Sprecherin im Landtag in Hannover zu Wort. „Die Geschehnisse machen uns sprachlos. Gewalt darf niemals ein Mittel zur Durchsetzung von politischen Interessen sein. Wenn bewaffnete Bürgerinnen und Bürger mit Duldung und Anfeuerung eines Präsidenten demokratische Wahlergebnisse revidieren wollen, bekommt das Bild vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten einen bitteren Beigeschmack.“ Glosemeyer fordert die politischen Mitstreiter Donald Trumps zum Handeln auf: „Die Republikaner haben die Wahl zwischen ihrem US-Präsidenten und der Demokratie! Nach den furchtbaren Ausschreitungen wäre es nur konsequent, dass über eine mögliche Absetzung von Präsident Donald Trump durch sein eigenes Kabinett beraten wird. Europa erwartet, dass die Amtsübergabe ungehindert erfolgt und Joe Biden als Präsident zeitnah und planmäßig die Amtsgeschäfte übernimmt.“ Bei Gesprächen mit Familienmitgliedern, die Trump-Wählerinnen sind, vermeidet Sarah Vilece mittlerweile meist politische Themen. „Aber meine Schwester in den USA streitet gern, und das ist gut so“, sagt sie lächelnd. Ihre drei Kinder sollen die Familie in Amerika nach den Corona-Schutzmaßnahmen wieder angstfrei besuchen können, auch wenn es der Mutter lieber ist, wenn sie in Deutschland aufwachsen – mit durch Gewerkschaften erkämpfte Arbeitszeitregelungen und einer Krankenversicherung. Von Andrea Müller-Kudelka