Corona-Lockdown: Zwei Wolfsburger Kinderpsychologinnen im Interview

Die Verbindung von Homeschooling und Homeoffice, fehlende Freizeitangebote und Kontakte: Familien mit Kindern stellen die Corona-Einschränkungen vor große Herausforderungen. Die WAZ hat im Zuge der Serie „Jugendliche und Corona“ mit den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen Marion Golla und Eva Schmidt darüber gesprochen, welchen Einfluss die Maßnahmen auf die Psyche von Kindern haben können und wie Familien möglichst gut durch die Pandemie kommen. Frau Golla, Frau Schmidt erste Studien deuten darauf hin, dass sich die Corona-Maßnahmen negativ auf die psychische Gesundheit von Kindern auswirken. Wie ist Ihr Eindruck aus der täglichen Praxis? Schmidt: Eine Kollegin bezeichnete es so: Covid-19 wirkt wie ein Brennglas, das finde ich sehr passend. Die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen in unserer Praxis kommen mit einer spezifischen Symptomatik, einem Leidensdruck, der auch ohne die Covid-Pandemie da gewesen ist. Die Pandemie-Maßnahmen verschärfen aber häufig bereits bestehende Probleme und geben den letzten Anstoß, sich in unserer Praxis Hilfe zu suchen. Die Hinweise in den Studien können wir hier also durchaus wiederfinden. Wir hören zudem aus dem Kinderschutzbereich, dass es im Spannungsfeld Homeschooling zu Übergriffen auf Kinder kommt – auch in Familien, in denen dies vorher nie ein Thema war. Marion Golla (55) ist Diplom-Sozialpädagogin und Diplom-Psychologin. Die Mutter eines Kindes arbeitet seit gut 20 Jahren als Psychotherapeutin in eigener Praxis für Kinder, Jugendliche wie auch Erwachsene in Wolfsburg. Eva Schmidt (43) ist Diplom-Psychologin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Die Mutter zweier Kinder stammt ursprünglich aus dem Ruhrgebiet. Sie arbeitetet seit 20 Jahren mit Kindern, Jugendlichen und Eltern. Seit 2014 ist sie in Wolfsburg tätig. Wie gut können sich Kinder an die immer wieder neuen Regeln und Situationen anpassen? Schmidt: Kinder und Jugendliche sind grundsätzlich flexibel, insbesondere wenn die nächsten Bezugspersonen sich gut anpassen können, denn diese sind die Leitwölfe. Wichtig ist aber, ihnen alles ihrem Alter angemessen ruhig und sachlich zu erklären. Und trotzdem: Auch wenn die situative Anpassung erst einmal zu gelingen scheint, können mit etwas Verzögerung Gefühle von Einsamkeit, Niedergeschlagenheit, Ängste und Sorgen oder Hyperaktivität auftreten. Golla: Die Möglichkeiten der Anpassung sind zudem davon abhängig, wie belastet das Kind vorher bereits war. Hat es beispielsweise Schwierigkeiten im Sozialkontakt oder Freunde zu finden, bedeutet die jetzige Isolation viel Einsamkeit und Traurigkeit, also Leidensdruck. War ein Kind depressiv verstimmt, kann sich dies verschärfen. „Kinder und Jugendliche haben das Bedürfnis nach einem strukturierten und geregelten Alltag“: Inwiefern sind der Lockdown und die seit Monaten anhaltenden Beschränkungen eine Belastung für Kinder? Golla: Kinder und Jugendliche haben, genau wie wir Erwachsenen, das Bedürfnis nach einem strukturierten und geregelten Alltag. Diesen unter den jetzigen Bedingungen aufrechtzuerhalten ist eine große Herausforderung. Viele Freizeitaktivitäten und Sozialkontakte sind auf ein Minimum reduziert. Für Kinder und Jugendliche ist der Kontakt zur Peer-Group enorm wichtig, hier entwickeln sich Identität, Sozialkompetenz, Beziehungen, gemeinsame Kreativität. Einige Jugendliche in Abschlussklassen haben auch Prüfungs- und Zukunftssorgen bis hin zu Ängsten, wie es für sie nach der Schule überhaupt weitergehen kann. Schmidt: Wir beobachten einen erhöhten Medienkonsum sowohl bei Kindern als auch bei Jugendlichen. Es gibt darüber hinaus möglicherweise mehr Konflikte zuhause, durch das viele Zusammensein, das Homeschooling, durch fehlende Bedürfnisauslastung und die vielen Rollen, die die Erwachsenen jetzt einnehmen müssen. Wir haben also eine Vielzahl an Belastungsfaktoren, die zusammengenommen deutliches Risikopotenzial haben. Gibt es aus Ihrer Sicht Gruppen, die durch die aktuelle Situation besonders gefährdet sind und welche Rolle spielt das Alter? Golla: Die Familien, in denen es auch ohne die Pandemie Konflikte, psychosoziale Belastungen oder Erkrankungen gab, sind jetzt besonders gefährdet und benötigen unbedingt weiter Hilfsangebote, Stärkung und Menschen, die sie begleiten. Jüngere Kinder sind zudem als gefährdeter einzuschätzen. Sie sind deutlich abhängiger von ihren Eltern, zum Beispiel, um Kontakte zu anderen herzustellen oder sich draußen zu bewegen. Jugendliche können sich an Freunde wenden, haben in der Regel auch die Möglichkeit, hierfür Social Media zu nutzen und insgesamt einen größeren Bewegungsradius. Das heißt aber nicht, dass sie weniger belastet sind. Sie stehen vor der Herausforderung, sich von den Eltern zu lösen, hierfür aber zurzeit kein Entwicklungsfeld zu haben. „Die positiven Effekte können als Ressource genutzt werden“: Haben die Maßnahmen umgekehrt auch positive Effekte? Schmidt: Wir hören immer wieder, dass die Entschleunigung im Alltag positiv erlebt wird. Mehr Zeit mit der Familie und eine Intensivierung der Beziehungen können die psychische Stabilität und das Wohlbefinden fördern. Ich kenne aber keine Familie, die die Pandemie-Effekte als insgesamt positiv für sich persönlich bewertet. Die positiven Facetten können jedoch als Ressource genutzt werden. Einige Kinder berichten außerdem, dass sie sich für die Zukunft mehr Flexibilität beim schulischen Lernen wünschen und beispielsweise gerne Präsenz- und Distanzlernen kombinieren würden. „Ich wünsche mir mehr Lösungsorientierung und Wertschätzung von Bedürfnissen“: Inwiefern können Eltern und andere Bezugspersonen beeinflussen, wie ein Kind mit den Maßnahmen zurechtkommt? Schmidt: Eltern und andere Bezugspersonen sind Leitwölfe. Die inneren Möglichkeiten der Erwachsenen, Krisen oder schwere Lebensumstände zu bewältigen und Lösungen zu finden sind von zentraler Bedeutung für die Kinder und Jugendlichen. Aber: Als Eltern gleichzeitig Arbeitnehmer, Lehrer, Kindergärtner, Ersatz für Sozialkontakte des Kindes und Alltagsstrukturierer zu sein, das ist eine enorme Herausforderung, die mit noch so vielen Ressourcen teils nicht bewältigbar ist. Hier sollte niemandem ein Vorwurf gemacht werden. Ich wünsche mir aber auch in der öffentlichen Debatte mehr Lösungsorientierung und Wertschätzung von Bedürfnissen. Wem hilft es, wenn die Menschen verunglimpft werden, die sich nach Monaten der Sorge, einer Zeit des Verzichts und des Stresses über Schnee freuen und mit ihren Kindern im Harz Schlitten fahren möchten? Was macht es mit den Menschen, wenn das Ordnungsamt mit einem Kamerateam Übeltäter verfolgt, die sich nicht regeltreu verhalten? Besser wäre es zu sagen: „Wir suchen eine Lösung und verkaufen zum Beispiel eine begrenzte Zahl Online-Parkplatztickets für gewisse Zeitfenster.“ Die Menschen brauchen eine innere Haltung, die sie durch diese schwere Zeit trägt. Dazu können alle beitragen. Wie können Eltern und Bezugspersonen Kindern helfen, wenn sie merken, dass diese Schwierigkeiten mit der aktuellen Situation haben? Golla: Erst einmal sollten sie genau beobachten: Was sind die Veränderungen an meinem Kind? Was braucht es? Kann ich selbst unterstützen? Oder weiß ich gerade einfach nicht weiter? Brauche ich selbst Hilfe? Beratungsstellen und Psychotherapeuten machen weiterhin Gesprächsangebote unter entsprechenden Hygienemaßnahmen. Niemand sollte zu lange zögern, sich zu melden. Auch wenn sie kein persönliches Gespräch ersetzt, möchten wir zudem die Website www.corona-und-du.info empfehlen. Welche Angebote sind außerhalb der Familie wichtig, damit Kinder gut durch die Pandemie kommen? Schmidt: Wichtig sind Kontakte zu Gleichaltrigen und anderen Bezugspersonen via Brief, Telefon oder Videoanruf. Außerdem sollte man für Bewegungsangebote draußen, zum Beispiel auf Spielplätzen oder im Wald sorgen. Auch die Bezugspersonen in Kindergärten und Schulen sollten, wenn möglich, in wechselseitigem Kontakt zu den Kindern stehen. Wichtig ist ein geregelter Tagesplan mit Zeitfenstern für Schule, Entspannung, Bewegung, Spiel und Mahlzeiten. Außerdem sollten Eltern auf einen begrenzten Medienkonsum und eine gute Schlafhygiene achten. Von Melanie Köster