Niedersachsens Kultusminister Tonne rät Eltern: Kinder in die Grundschulen

Herr Minister Tonne, Niedersachsens Ärztekammerpräsidentin Martina Wenker hat die teilweise Öffnung der Grundschulen als falsch und halbherzig kritisiert – aus ärztlicher Sicht. Hat Sie die deutliche Kritik überrascht? Und wie. Ich habe den Eindruck, dass Frau Wenker bei ihrer Stellungnahme nicht mit ihren Kinder- und Jugendmedizinern gesprochen hat. Die haben nämlich genau das Gegenteil geraten und dargelegt, welche Probleme über Wochen geschlossene Schulen den Kindern und Jugendlichen bereiten. Wenn wir den Kindern in der Grundschule also noch den Unterricht ermöglichen, so tun wir dies wegen der Bildung, aber auch aus Gründen des Kindeswohls und keinesfalls leichtfertig. Das ist eine Abwägungsfrage, die man nicht zu schematisch entscheiden sollte. Bei Frau Wenkers Einwurf blieb die Position der Kinder- und Jugendmediziner jedenfalls unberücksichtigt. Die Abwägung haben Sie in die Hände der Eltern gelegt, die sich nun entscheiden sollen. Was genau ist dabei Ihre Intention? Sollen die Grundschulkinder in der Regel in die Schule gehen oder eher zu Hause bleiben? Die Frage ist relativ leicht zu beantworten. Wenn wir den Schulbesuch für zu riskant hielten, würden wir die Schulen nicht für die Grundschüler und Abschlussklassen öffnen. Gleichzeitig wissen wir, dass möglichst jeder Bereich seinen Beitrag dazu leisten sollte, dass weniger Kontakte entstehen. Das tun die Schulen bereits – und sie haben es auch schon vor dem Kanzlerinnengipfel getan. Derzeit sind 75 Prozent der Schülerinnen und Schüler zu Hause, in der Vorwoche deutlich über 90 Prozent. Davor war eine lange Phase ohne Kontakte wegen der Weihnachtsferien und der unterrichtsfreien Zeit. Aber das Zuhausebleiben hat vor allem für die kleinen Kinder negative Folgen. Und deswegen müssen wir ihnen die Möglichkeit eröffnen, die Schule zu besuchen – unter strengen Konditionen. „Eine falsche Schwerpunktsetzung“: Viele Eltern sind völlig verunsichert, vor allem, wenn sie Briefe von Schulleitern bekommen, in denen sinngemäß steht, sie sollten ihr Kind besser zu Hause lassen, wenn die Betreuung gesichert ist. Das wirkt wie eine indirekte Aufforderung, die Kinder zu Hause zu lassen. Ist das in Ihrem Sinn? Das ist eine falsche Schwerpunktsetzung. Wenn es Briefe mit dieser indirekten Aufforderung gibt, dann schauen wir uns das an. Die Eltern sollen wirklich für sich entscheiden. Sie können ihr Kind guten Gewissens in die Schule schicken, denn wir haben keinen Unterricht unter normalen Bedingungen. Wir haben geteilte Klassen, also kleine Gruppen. Wir haben überall Wahrung des Abstandes. Die Schüler tragen Masken, wenn sie nicht an ihrem Platz sitzen. In Teilen der Öffentlichkeit wird aber so diskutiert, als ginge es an den Schulen zu wie früher. Der enorme Aufwand, der betrieben wird, um die Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten, wird gar nicht gesehen. Und ich sage es noch einmal: Es gibt auch einen Bildungsauftrag und das Kindeswohl. Kleine Kinder leiden, wenn sie keinen Austausch unter ihresgleichen haben. Auch deshalb halten wir die Grundschulen offen. Grant Hendrik Tonne ist seit November 2017 niedersächsischer Kultusminister. Der 44-jährige Sozialdemokrat studierte in Bremen Jura und ist Rechtsanwalt. Er gehörte von 2008 bis 2017 dem niedersächsischen Landtag an, in den er im April 2020 wieder über die SPD-Landesliste einrückte, weil der Abgeordnete Dirk Adomat Landrat in Hameln wurde. Vor seiner Berufung zum Kultusminister war Tonne Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion und damit rechte Hand der Fraktionschefin Johanne Modder. Manche Eltern klagen, ihr Arbeitgeber akzeptiere nicht, dass sie ihr Kind zu Hause ließen und selbst betreuen müssten. Das Argument der Arbeitgeber: Die Grundschulen seien doch grundsätzlich offen. Was raten Sie solchen Eltern, die die Wahlfreiheit in die Bredouille bringt? Ich rate den Eltern, sich in dieser Frage auf keinen Fall unter Druck setzen zu lassen. Schließlich gibt es, wenn Kinder zu Hause betreut werden müssen, das Kinderkrankengeld, das in der Regel 90 Prozent des ausgefallenen Nettoarbeitsentgelts beträgt. Ich bin froh, dass die Bundesregierung Anfang dieses Jahres ein entsprechendes Gesetz verabschiedet hat und in deutlich höherem Umfang als bisher Zahlungen ermöglicht. Uns geht es wirklich um die Wahlfreiheit der Eltern. Wir haben übrigens eine ganze Menge von Rückmeldungen, die gerade die von der Ärztekammerpräsidentin kritisierte Wahlfreiheit der Eltern begrüßen. Und ich bin auch persönlich als Vater der Auffassung, dass es vor allem für die Grundschulkinder nach fünf Wochen zu Hause sehr wichtig ist, wenigstens tageweise in die Schule zu kommen und Kontakte zu knüpfen, die zu Hause nicht möglich waren. „Kontakt geht auch mit Abstand“: Aber Kontakte knüpfen soll doch nun gerade nicht geschehen? Ich habe ja schon ausgeführt, dass an den Grundschulen sowie in den Abschlussklassen Lernen und Kontakte nur unter sehr eng gefassten Bedingungen geschehen. Kontakt geht auch mit Abstand! Es ärgert mich richtig, wenn Bildung und Pandemiebekämpfung so hart gegeneinander ausgespielt werden, dass für die Bildung am Ende gar nichts mehr übrig bleibt. Also: Die Grundschulkinder können getrost in die Schule gehen, wo sie in halben Klassen unterrichtet werden. Und wer sich sorgt, der kann seine Kinder eben vom Präsenzunterricht abmelden. Wälzen Sie damit nicht die Verantwortung ab? Nein. Mir kommt in der gesamten Debatte die Position der Kinder und Jugendlichen zu kurz. Wir müssen uns fragen, was haben wir ihnen, die in den letzten Wochen zu Hause bleiben mussten, eigentlich zugemutet? Dass wir den Eltern Wahlfreiheit gegeben haben, ist in meinen Augen keine Zumutung. Ich will aber nicht in Abrede stellen, dass das für die Eltern eine schwierige Abwägung ist. Sie haben selbst vier Kinder. Wie alt sind die und was machen die? Die sind 16, 13, zehn und sieben Jahre alt und besuchen alle die Schule. Genauer: Ein Kind, nämlich die Jüngste, geht zur Schule und die anderen erleben derzeit den Distanzunterricht. Von Michael B. Berger