München scheint derzeit eine einzige Baustelle zu sein. Jedenfalls rattert, kracht und staubt es im aktuellen Münchener „Tatort“ mit dem Titel „Aus der Tiefe der Zeit“ an jeder Ecke.
Vor allem der Stadtteil Westend steht im Blickpunkt: Hier sollen Alteingesessene und die alternative Szene weichen, Spekulanten bauen Luxuswohnungen. Auch einen Korruptionsskandal gibt es bereits. Wie es der Zufall will, bezieht ausgerechnet dort auch Hauptkommissar Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) Quartier. Übergangsweise, denn Leitmayr ist auf Wohnungssuche. Doch so richtig kommt er gar nicht dazu, denn schon bald muss er gemeinsam mit Partner Ivo Batic (Miroslav Nemec) den Tod eines jungen Mannes aufklären, dessen Leiche in der Baugrube eines besonders spektakulären Projekts gefunden wird.
Der Tote war der Adoptivsohn der Familie Holzer, die in einer bizarr-prachtvollen Villa in Pullach residiert. Besagte Villa steht jedoch an einem Hang, der – Achtung: Symbolik! – jederzeit abzurutschen droht. Auch mit einem weiteren Toten standen die Holzers in Verbindung. Leitmayr und Batic ermitteln vor allem im familiären Umfeld, was sich jedoch als äußerst schwierig herausstellt. Denn Familienoberhaupt Magda Holzer (Erni Magold) hantiert als ehemalige Zirkus-Kunstschützin gern mal überraschend mit Waffen, der labil wirkende Sohn Peter (Martin Feifel) spricht von sich stets in der dritten Person, Schwiegertochter Liz Bernard (Meret Becker) verwirrt als schillernder Charakter. Und welche Rolle spielt eigentlich der kroatische Hausdiener Ante Mladec (Misel Maticevic)?
Der „Tatort“ im Fernsehen
„Aus der Tiefe der Zeit“ | ARD
Krimi aus der Reihe „Tatort“
Sonntag, 20.15 Uhr
Klingt kompliziert? Ist es auch. Kompliziert und anstrengend. Der vielfach ausgezeichnete Regisseur Dominik Graf macht es seinen Zuschauern nie einfach. Bei diesem „Tatort“ hat Autor Bernd Schwamm („Der Fahnder“) zudem eine äußerst komplexe Geschichte aus vielen sich immer wieder berührenden Handlungssträngen geliefert. Die schnell geschnittenen, hell ausgeleuchteten Szenen, in die kurze Rückblenden eingestreut sind, geben dem Krimi ein hohes, fast hektisches Tempo. Wer da kurz nicht aufpasst, verliert schnell den Faden.
Überhaupt ist dieser Fernsehkrimi eher etwas für Filmkunst- als für „Tatort“-Freunde. Dass Graf ein großartiger Milieuschilderer ist, hatte er zuletzt mit seinem Mehrteiler „Im Angesicht des Verbrechens“ gezeigt. In der Krimihandlung dort spiegelten sich Verhaltensmuster der Russenmafia und korrupter Kriminalbeamter – und zwar zehn Folgen lang. Der „Tatort“ kreist in seinen nur 90 Minuten sowohl um Spekulanten und Gentrifizierungsgegner als auch um die Nachfahren einer Zirkusfamilie und in München lebende nationalistische Kroaten. Dies würde wohl für drei Filme reichen. Ein Fernsehkrimi ist damit schlicht überfrachtet.
Was versöhnt? Die leidenschaftlich spielenden Darsteller. Martin Feifel gibt einen wunderbar durchgeknallten ungeliebten Sohn. Meret Becker wechselt mit jeder Perücke und Kostümierung spielend ihr Temperament. Mit großer Glaubhaftigkeit leben die beiden ältesten Darsteller des Ensembles ihre Rollen: Die 86-jährige Österreicherin Erni Mangold krallt sich energisch noch an ihrem Gewehr fest, als längst der Boden unter ihr wackelt; der 74-jährige Branko Samarovski gibt den sterbenden Kroaten, der noch eine Lebensbeichte loswerden will. Wie gut, dass bei diesen vielen gebrochenen Figuren wenigstens Leitmayr und Batic ganz geerdet und in sich ruhend ermitteln. Manchmal scheinen sie sogar irritiert staunend vor dem zu stehen, was um sie herum passiert. Ganz so wie der Zuschauer.