Übersterblichkeit: Wie tödlich ist das Coronavirus in Niedersachsen wirklich?

Vielleicht kann man sagen, dass eine zentrale Frage im Umgang mit dem Coronavirus bis heute, ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie, nicht wirklich beantwortet ist: Wie tödlich ist das Virus? Corona-Warner haben harte Maßnahmen immer mit Angst vor hohen Sterbezahlen begründet. Die, die die Maßnahmen skeptisch sehen, haben die Sterblichkeitsrate dagegen oft mit der gewöhnlichen Grippe verglichen und damit die Sinnhaftigkeit von Lockdown und Maskenpflicht in Zweifel gezogen. Was sagen nun die Zahlen in Niedersachsen aus, fast ein Jahr nach Beginn der Corona-Krise? Erkundigt man sich bei der Feuerbestattungsgesellschaft Hannover und Niedersachsen, fällt die Auskunft eher gelassen aus: „Corona hat nichts messbar verändert“, sagt ein Sprecher. 2014 habe die Gesellschaft 7000 Einäscherungen verzeichnet, 2018 waren es 6637. Und im Corona-Jahr 2020? Ungefähr auf gleichem Niveau, heißt es: Insgesamt 6523. Ein Eindruck, der sich beim Blick in die Landesstatistik weitgehend bestätigt. „Die Entwicklung ist nicht besonders auffällig“, sagt Statistikerin Margot Thomsen. Sie geht anhand der Rohdaten von einer sogenannten Übersterblichkeit von 2 Prozent aus – also zwei Prozent mehr Todesfällen als im Jahresmittel normalerweise zu erwarten wären. „Im Dezember allerdings ist die Übersterblichkeit gestiegen – in der 50. Kalenderwoche um 14 Prozent und in der 51. Kalenderwoche um 5 Prozent über dem Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019“, ergänzt sie. Epidemiologin: Harte Maßnahmen wirken: Haben die Skeptiker damit Recht? Werden die Folgen der Pandemie bezüglich der sogenannten Übersterblichkeit überschätzt? Berit Lange, Epidemiologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig, hält dagegen. Zum einen spielen nach Ansicht der Ärztin regionale Effekte eine große Rolle bei der Zahl der Corona-Todesfälle. „Niedersachsen war stets weniger betroffen“ – von der Krankheit und damit auch von den Todeszahlen. In Sachsen etwa ist die Situation eine komplett andere – dort wird eine Übersterblichkeit von 30 Prozent registriert. Und zum anderen hätten vor allem die vielen und strengen Corona-Maßnahmen einen doppelten Effekt gehabt: Damit sei die Ausbreitung der Corona-Pandemie entscheidend eingedämmt worden und zudem gebe es, quasi im Nebeneffekt, eben auch deutlich weniger Grippefälle. „Es gab harte Maßnahmen, um die Sterberaten niedrig zu halten, das hat lange auch gut funktioniert“, sagt Epidemiologin Lange. Tatsächlich zeigt ein Blick in andere europäische Länder, dass Corona keineswegs überall so verlaufen ist, wie in Niedersachsen oder in weiten Teilen Deutschlands. Italien, Frankreich und Großbritannien erlebten heftige Anstiege der Todeszahlen im Frühjahr 2020 und einen Rückgang auf Normalniveau während des Sommers. Die italienische Statistikbehörde Istat meldete im Dezember, dass in Italien im Jahr 2020 so viele Menschen gestorben seien, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die USA liegen mit ihren Sterbezahlen seit Mitte März konstant deutlich über normalem Niveau. Gegenläufige Effekte in der Statistik: Doch bei wie vielen der Verstorbenen war tatsächlich Corona die Todesursache oder nur Begleiterscheinung? „Wir wissen erst mit Sicherheit, wie eine Übersterblichkeit mit Corona zusammenhängt, wenn wir nicht nur die Todesfallzahlen, sondern auch die Todesursachen aufgeschlüsselt haben“, sagt Epidemiologin Lange. Unterschiedliche Effekte für Todesursachen, wie auch Parameter wie Unfälle, Umweltschäden oder auch unerkannte und unbehandelte Herzinfarkte, würden es erst nach einer genauen Aufschlüsselung ermöglichen, konkrete Schlüsse zu Übersterblichkeit und Ursachen zu ziehen. Lesen Sie auch: Was ist über die Corona-Todesfälle in Niedersachsen bekannt? Sie gehe aber, wie die meisten Experten am Helmholtz-Institut in Braunschweig, davon aus, dass Corona die Hauptursache für die Übersterblichkeit im Jahr 2020 sein werde. „Wenn wir die Todesursachen kennen, werden wir vermutlich auch sehen, dass die Sterberaten für bestimmte Todesursachen zurückgegangen und für andere angestiegen sind. Die gesamte Sterblichkeit setzt sich dann aus diesen zum Teil gegenläufigen Effekten zusammen“, so Lange. Ihr Hauptfazit der Situation ist, „dass wir gut beraten wären, zeitnah deutschlandweit ein Mortalitätsregister zu installieren“ – also eine verbindliche Statistik zu Todesursachen. Dann könne leichter und schneller ermittelt werden, warum Sterblichkeitsraten sich über die Zeit verändern. Bei einer schweren regionalen Epidemie aber würde es grundsätzlich zu deutlicher Übersterblichkeit kommen, was sich auch in den entsprechenden Daten aus Ländern mit schweren Epidemien in der ersten Welle, wie Spanien oder England, zeige. „Vor allem während der ersten Welle konnten wir in Deutschland das noch relativ gut eindämmen“, sagt Lange. Lesen Sie auch Bundesweit ein Drittel mehr Tote zum Jahresende Sterberisiko bei Älteren durch Corona verdoppelt Noch keine Zahlen aus der Region Hannover: Bei der Region Hannover wurden noch keine belegbaren Zahlen ermittelt. „Die Statistikerinnen und Statistiker der Region Hannover sind derzeit stark in die statistischen Auswertungen rund um die Covid-19-Pandemie eingespannt. Parallel dazu erarbeiten sie aktuell die Statistik zur (Über-) Sterblichkeit“, erklärt Regionssprecher Christoph Borschel. Diese Auswertung abzuschließen könne allerdings noch ein wenig Zeit in Anspruch nehmen. Denn anders als auf Landesebene werden die kommunalen Daten nicht fortgeschrieben, sondern die Region Hannover erhält von allen 21 Städten und Gemeinden die in ihren Melderegistern erfassten Bevölkerungsdaten. „Diese liegen für das Jahr 2020 noch nicht komplett vor.“ Von Susanna Bauch und Heiko Randermann