Schule und Corona: Kultusminster Grant Hendrik Tonne im Interview

Herr Minister Tonne, läuft nach den Sommerferien in den Schulen endlich alles wieder so wie vor Corona? Das wünschen wir uns sicher alle. Die Festlegung darauf halte ich zehn Wochen vor Beginn des neuen Schuljahres jedoch für schwierig. Wir arbeiten darauf hin, so viel Normalität wie möglich zu gewährleisten. Plan A ist der Regelbetrieb, wir haben aber auch einen Plan B, wenn die Infektionszahlen wieder nach oben gehen. Vor der Sommerpause werden wir sagen, wie es nach den Sommerferien weitergehen kann. Wir entwickeln dazu eine Art Baukastensystem: Wenn es diese Einschränkungen gibt, dann machen dies, wenn jenes passiert, dann machen wir das. Wir müssen uns also nicht auf Unterricht mit Abstand bis zum Jahresende einstellen? Genauso wenig wie man jetzt mit absoluter Sicherheit sagen kann, dass es nach den Ferien normal weitergeht, genauso unseriös wäre es zu sagen, bis Ende Dezember kann auf gar keinen Fall so etwas stattfinden. Schulen brauchen Klarheit, zu Beginn der Sommerferien wird ein Konzept vorliegen, das dann immer wieder überprüft und an die dynamischen Entwicklungen angepasst wird. Wir diskutieren gerade mit den Bildungsverbänden über einen möglichen Korridor. Dabei geht es auch darum, wie sich die Zahl der Lehrer entwickelt, die zu den Risikogruppen zählen, und was mit dem Abstandsgebot ist. „Es geht nicht darum, es sich möglichst einfach zu machen“: Wäre es nicht viel besser, im derzeitigen Wechselmodell bis zu den Herbstferien zu bleiben und sich dann – je nach Infektionslage – für mehr Öffnung oder nicht zu entscheiden? Nein, es geht ja nicht darum, es sich möglichst einfach zu machen. Die meisten Schülerinnen und Schüler und die Eltern wünschen so viel Präsenzunterricht wie möglich, die Lehrkräfte wollen aus der Doppelbelastung aus Präsenzunterricht und betreutem Lernen zu Hause herauskommen. Deswegen darf es nicht um möglichst einfache Lösungen gehen. Nach den Sommerferien wird Corona nicht vorbei sein, aber wir haben jetzt eine angenehm positive Entwicklung der Infektionszahlen – und das seit Wochen. Dies stimmt mich zuversichtlich, dass es auch in Schulen wieder mehr zurück zur größtmöglichen Normalität gehen kann. Wird es an den Grundschulen im neuen Schuljahr wieder ein Ganztagsangebot geben? Auch da gilt der Grundsatz: Wir wollen so viel Normalität wie möglich ermöglichen, was etwa die Durchmischung von Lerngruppen angeht. Das betrifft nicht nur den offenen Ganztag und Arbeitsgemeinschaften, das betrifft auch den Fremdsprachen- oder Religionsunterricht. Wir werden darüber beraten müssen, wie viele Schritte nach vorn wir gehen wollen. Wird es verkürzte Sommerferien geben? Nein, eine Verkürzung habe ich immer abgelehnt. Wir brauchen in dieser Zeit der Verunsicherung auch vertraute Eckpfeiler. Es sollte aber Angebote zur Betreuung geben, denn viele Eltern haben ihren Urlaub und ihre Überstunden bereits aufgebraucht. Viele Kitas haben schon signalisiert, dass sie nicht die üblichen Schließzeiten machen werden, auch viele Jugendhilfeeinrichtungen überlegen sich gerade Modelle. Das können Ferienspiele oder auch Lernangebote sein. Jegliche Form von verpflichtenden Angeboten aber lehne ich ab. Und was ist mit dem versäumten Lernstoff? Ich glaube, dass die Kinder, die noch lange im System Schule sind, die Erst-, Zweit- oder Fünftklässler, sechs bis acht Wochen Unterrichtsausfall ohne größere Probleme überwinden können. Bei den Schülern, die im nächsten Jahr ihre Abschlüsse machen, also den künftigen Neunt-, Zehnt- und 13-Klässlern, muss man möglicherweise die Prüfungen anpassen. „Prüfungen werden nicht nach unten nivelliert“: Also werden die Prüfungen 2021 coronabedingt leichter? Nein, so wie dieses Jahr nicht an der Qualität gedreht wurde, werden auch im nächsten Jahr das Abitur oder die Sekundarstufe-I-Prüfungen nicht nach unten nivelliert. Vielleicht werden aber Themen gestrichen, die erkennbar nicht behandelt werden konnten. Experten kritisieren, dass durch das wochenlange Homeschooling die Bildungsschere immer weiter auseinanderklafft zwischen Kindern, die viel lernen, und denen, die gar nichts lernen. Ist das Bildungsgerechtigkeit? Es gibt Indizien, die darauf hindeuten, für eine abschließende Beurteilung ist es vier Wochen vor Schuljahresende noch zu früh. Schulen berichten davon, dass manche Schüler gut zu Hause lernen, es aber auch Kinder gibt, die sie überhaupt nicht erreichen. Da müssen wir uns Lösungen überlegen, wie man den Anspruch auf Teilhabe auch wirklich gewährleisten kann. Da haben wir zu unterschiedliche Bedingungen. Was heißt das konkret? In Elternhäusern, die ihren Kindern einen Rahmen und Struktur vorgeben, geht das Lernen zu Hause deutlich besser als in beengten Wohnverhältnissen, in denen es weder Platz noch Ruhe noch elterliche Unterstützung gibt. „Nicht alle Langzeitfolgen von Corona sind negativ zu betrachten“: Gerade Grundschullehrer beklagen, dass sie jetzt Kinder nicht in den Arm nehmen und trösten können, wenn diese sich wehgetan haben. Wann dürfen Kinder wieder kuscheln? So bedauerlich das ist: Solange Abstandhalten der beste Infektionsschutz ist, müssen sich Lehrer und Schüler daran halten. Uns war es wichtig beim Wiedereinstieg in den Unterricht, dass all diejenigen, die in die Schule zurückkehren, wissen, dass sie dort sicher sind. Gilt das auch jetzt noch, da alle Jahrgänge zurück sind? Ja, auch wenn ich natürlich nicht ausschließen kann, dass im Einzelfall auch mal das Abstandsgebot von anderthalb Metern vielleicht nicht eingehalten wird. Das dürfte im Alltag mittlerweile überall schon mal passieren. Übrigens sind nicht alle Langzeitfolgen von Corona negativ zu betrachten. Was nicht? Die Digitalisierung hat noch mal einen gehörigen Schub bekommen. Das war aber auch nötig, das Thema hat Niedersachsen ja auch vorher lange verschlafen. In einer Schlusslichtdebatte sehe ich Niedersachsen nicht. Ja, wir müssen uns anstrengen, aber das machen wir ja auch. Im Ländervergleich sind wir beim Digitalpakt ganz vorne an der Spitze. „Erzieher und Lehrer haben in der Corona-Krise einen Granatenjob gemacht“: Wie geht es eigentlich mit den Kitas weiter? Gilt weiterhin: Ab 1. August ist wieder Regelbetrieb? Das ist das erklärte Ziel. Ob der Regelbetrieb aber möglicherweise zum Schutz von Risikogruppen stundenweise eingeschränkt werden muss, wird sich zeigen müssen. Ab nächstem Montag beenden wir die Notbetreuung und kehren zum Regelbetrieb unter Einschränkung zurück. Die Fachkräfte, die zur Verfügung stehen, bestimmen den zeitlichen Umfang, in dem die Kinder betreut werden können. Wenn 20 Prozent der Fachkräfte nicht vorhanden sind, weil sie zur Risikogruppe gehören, schränkt das den Umfang natürlich ein. Die Träger können aber zusätzliches Personal einstellen. Insgesamt wird es zu einer deutlichen Steigerung des Betreuungsangebots kommen. Viele Erzieher und Lehrer warnen aber auch vor zu schnellen Lockerungen. Wollen die nicht zurück zum alten Job? Erzieher und Lehrer haben in der Corona-Krise einen Granatenjob gemacht. Eltern berichten aber auch über ganz unterschiedliche Erfahrungen, manche Lehrer haben sich sehr oft bei den Schülern gemeldet, sogar freiwillig Videounterricht oder Online-Sprechstunden angeboten, von anderen kamen kaum etwas oder gar nichts. Hätte da das Land keine Standards vorgeben müssen? In der Krise war diese Freiheit für die Schulen notwendig und wurde sehr gut genutzt, auch sehr kreativ. Jetzt wird man nach der Auswertung womöglich mehr Verbindlichkeit festlegen müssen. Und, ja, eine Lehre aus der Corona-Zeit könnte sein, dass mehr Vorgaben nötig gewesen wären. Aber so eine Situation hat es noch nie gegeben, das war für alle neu. Grant Hendrik Tonne (43) ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Er lebt in Leese im Kreis Nienburg. Der Jurist war Juso-Vorsitzender des Unterbezirks Nienburg, Mitglied im Gemeinderat und Kreistag. Seit 1996 ist er in der SPD. 2008 und 2013 kam der Rechtsanwalt über die Landesliste in den Landtag und war Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion. Bei der Landtagswahl 2017 verpasste Tonne den Wiedereinzug in den Landtag, rückte im April 2020 aber für Dirk Adomat, den neuen Landrat des Landkreises Hameln-Pyrmont, ins Landesparlament nach. Als Kultusminister setzt er auf pragmatische Lösungen. Tonne ist sehr auf den „Schulfrieden“ bedacht und will keine Schulform bevorzugen oder benachteiligen. In der Corona-Krise rückte der sonst eher zurückhaltende SPD-Politiker stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. 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Schule und Corona - Wie geht es nach den Sommerferien weiter, Herr Tonne?