Andrang bei den Psychotherapeuten: Was Corona mit der Seele macht

Die Krise brach vor zweieinhalb Jahren aus. Michaels Frau wollte sich von ihm trennen. Michael, 54, ein Mann mit einer kleinen Firma im Kreis Celle, fiel ins Bodenlose. Da war dieses nagende Gefühl des Alleingelassenwerdens, da war die Frage, was am Leben jetzt eigentlich noch sinnvoll sei. Er hat sich schließlich, als es nicht mehr anders ging, Hilfe geholt, hat eine Psychotherapie angefangen, er war auf gutem Weg, sich aus dem Tief rauszuarbeiten. Dann kam Corona. Und er war wieder drin. Landauf, landab quellen die Psychotherapeutenpraxen über. Es kommen Menschen mit massiven Ängsten vor dem Virus. Es kommen Menschen, die von ihrer Angst vor dem Virus sprechen, und dann stellt sich heraus, dass sich darunter völlig andere Ängste verbergen, die sie zum Teil schon ihr ganzes Leben mit sich herumtragen. Und es kommen Menschen wie Michael, bei denen die Sorgen wegen Corona das verstärken, was an Problemen schon da ist. Ein Knacks durch das Virus: „Bei vielen Patienten, bei denen die Lage vorher bereits schwierig war, ist sie jetzt noch schwieriger“, sagt Roman Rudyk, Präsident der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen. Michaels Frau hatte ihm nach 22 Jahren Ehe, nachdem sie zwei Kinder gemeinsam großgezogen hatten, die Liebe aufgekündigt. Auseinandergelebt, sagte sie. Scheidung. „Ich bin damals in die Depression hineingeglitten“, erzählt er, aber er fand immerhin die Kraft, sich einen Therapeuten zu suchen. Nach und nach, ganz langsam, kehrte dadurch die Lebensfreude zurück, und er hat inzwischen auch wieder eine Partnerin. Es ging besser, bis die ersten Corona-Nachrichten aus Italien kamen. Viele von Michaels Lieferanten sitzen in Italien. Da ging aber keiner mehr zur Arbeit. Dann war Corona auch in Deutschland. Seinen jüngeren Sohn hat Michael seit Wochen nicht mehr gesehen, sein Ältester studiert in Spanien, „das ist ja derzeit auch nicht der beste Platz auf Erden“. Michael grübelte. Was bringt die Zukunft? Er selbst hat Diabetes, ist er gefährdet? Das Virus habe einen „Knacks“ verursacht, sagt er. Bei den Krankenhauskatastrophenbildern aus Italien spürte er einen Kloß im Hals, im Supermarkt bekam er Beklemmungen, die wirtschaftliche Lage machte im Sorgen. Alles war wieder da. Die Traurigkeit. Das Dunkle. Das Gefühl, alleingelassen zu sein. Praxen weiterhin geöffnet: Das größte Problem in den psychotherapeutischen Praxen ist im Moment, dass alle Abstand halten müssen. Therapien aber funktionieren nur, wenn eine Beziehung zwischen Patient und Therapeut entsteht, in der der Patient sich aufgehoben fühlt. Das ist schwer, wenn man sich nicht mal die Hand geben darf. „Aber wir tauchen nicht ab“, sagt Therapeutenkammerpräsident Rudyk. „Die allermeisten Praxen sind weiterhin geöffnet.“ Doch man habe, schweren Herzens, inzwischen bei etwa der Hälfte der Behandlungen auf Video umgestellt. Exakt 4066 psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten werden derzeit von der Kammer in Niedersachsen vertreten, in der Zahl enthalten sind auch die Kinder- und Jugendtherapeuten und 2521 niedergelassene Therapeuten. Und alle haben alle Hände voll zu tun. Kammerpräsident Rudyk berichtet von Menschen, die jetzt in seelische Krisen rutschen, weil sie beispielsweise ihre Angehörigen im Altersheim nicht mehr besuchen können, von einer Zunahme häuslicher Gewalt, von Jugendlichen, denen der tägliche Umgang mit ihresgleichen fehlt. Unter Corona komme es „zu einer Zuspitzung der Auseinandersetzung mit sich selbst“, und dass schaffe nicht jeder allein. „Das Gefühl von Isolation und Einsamkeit macht alles deutlich schmerzhafter.“ Therapie per Video: Georg Franzen ist einer von den Therapeuten, die derzeit auch mit Videosprechstunden arbeiten. Franzen führt den Verband Psychologischer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Niedersachsen. Er begrüßt, dass die Kassenärztliche Vereinigung die Möglichkeit eröffnet hat, mit spezieller, zertifizierter Software Therapiegespräche über Video zu führen, auch wenn er weiß, dass die Distanz solche Behandlungen schwierig macht. Aber die Videostunden sicherten immerhin ein Mindestmaß an Versorgung. Franzen rechnet mit einer Zunahme der behandlungsbedürftigen Menschen um mindestens 25 Prozent. Werner Weishaupt, zweiter Vorsitzender des Verbands Freier Psychotherapeuten mit Sitz in Nienburg an der Weser, vertritt in Niedersachsen etwa 1500 freie Therapeuten, beispielsweise psychotherapeutische Heilpraktiker. Weishaupt hat ein Anwachsen von Ängsten auch dadurch beobachtet, dass Menschen ständig Nachrichten hören und jedes Corona-Filmchen auf Youtube anschauen und sich dadurch selbst einem Erregungslevel aussetzen, das er ungesund findet. „Es ist gut, wenn jemand zuhört“: Auch die freien Therapeuten würden jetzt mit Video arbeiten, berichtet er, aber nur nach einem persönlichen ersten Gespräch zwischen Therapeut und Patient: „Sonst ist die Gefahr von Fehlbeurteilungen zu hoch.“ Michael kann seinen Therapeuten noch persönlich sehen. „Es ist gut, wenn jemand zuhört“, sagt er. „Die dunklen Gedanken werden dadurch aufgelockert.“ Bei ihm waren sie zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen so düster, dass er seiner neuen Lebensgefährtin beinahe gesagt hätte, sie solle jetzt erst mal zu Hause bleiben. Aber dann hat er doch noch gespürt, dass es ihm gut tun würde, einen lieben Menschen um sich zu haben. Es geht also aufwärts. Liveticker: Die Lage in Göttingen und Niedersachsen im Überblick Aktuelle Zahlen zum Coronavirus in Göttingen: So viele Infizierte gibt es Von Bert Strebe

Pandemie schürt Ängste - Andrang bei den Psychotherapeuten: Was Corona mit der Seele macht